Rechtsterrorismus
Ein Jahr Mordfall Lübcke: Schmerz und Gedenken
by Hanning VoigtsDer Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke jährt sich zum ersten Mal. Während das Gedenken in Corona-Zeiten bescheiden ausfällt, wird der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter mit großer Spannung erwartet.
Sie wollen ihm in die Augen sehen. Wenn der Mann, der ihren Ehemann und Vater ermordet haben soll, demnächst vor dem Oberlandesgericht Frankfurt auf der Anklagebank Platz nimmt, wollen Irmgard Braun-Lübcke, Christoph Lübcke und Jan-Hendrik Lübcke vor Ort sein. Der Prozess werde sie emotional schwer belasten, teilte die Familie des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke bereits Ende April mit, als der Generalbundesanwalt Anklage in dem Fall erhob. Dennoch wollten sie als Nebenkläger dazu beitragen, dass die mutmaßlichen Täter ihre gerechte Strafe erhielten: „Auch das sind wir meinem Ehemann und unserem Vater schuldig, den wir aufs Schmerzlichste vermissen.“
Wenn sich der Mord an Walter Lübcke in der Nacht zum Dienstag zum ersten Mal jährt, wird nicht nur seine Familie seiner gedenken. Aber es wird ein eher stilles Erinnern an den CDU-Politiker und langjährigen Abgeordneten des Hessischen Landtags werden, der im Alter von 65 Jahren erschossen wurde. Die Coronavirus-Pandemie drückt auch dem Jahrestag von Lübckes Tod ihren Stempel auf. Die Stadt Kassel und das Kasseler Regierungspräsidium verzichten auf Gedenkveranstaltungen, an der Behörde wurde nur ein Großbanner mit der Aufschrift „Demokratische Werte sind unsterblich“ angebracht. Die Hessische Staatskanzlei plant eine Kranzniederlegung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Das „Bündnis gegen rechts Kassel“, das nach Lübckes Tod Tausende Menschen zu Demonstrationen mobilisiert hatte, ruft dazu auf, am 2. Juni Blumen vor dem Regierungspräsidium niederzulegen – mit Sicherheitsabstand zur Wahrung des Infektionsschutzes.
Der Mord an Walter Lübcke, an den in einem eher bescheidenen Rahmen erinnert wird, hat vor einem Jahr schwere Schockwellen durch Hessen und die gesamte Republik gesendet. In der Nacht auf den 2. Juni war Lübcke auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha aus großer Nähe mit einem Kopfschuss getötet worden. Bereits kurz nach der Tat wurden Vermutungen laut, Lübcke, der als bürgernaher Politiker mit klarem christlichem Wertekompass galt, der auch deutliche Worte nicht scheute, könnte aus politischen Motiven erschossen worden sein. Denn seit Herbst 2015 war er zu einer Hassfigur der extremen Rechten geworden. Weil er sich für die Aufnahme von Flüchtlingen starkgemacht und auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden einigen aggressiven Pöblern entgegnet hatte, wer die hierzulande geltenden Werte nicht vertrete, der könne „jederzeit dieses Land verlassen“, war er angefeindet und bedroht worden. Der rechtsextremen Szene passte Lübcke perfekt in ihre wahnhafte Erzählung einer abgehobenen, „volksfeindlichen“ Elite, die Deutschland gezielt einem „Bevölkerungsaustausch“ unterziehe.
Kurz nach der Tat betonte Sabine Thurau, die Präsidentin des Hessischen Landeskriminalamts, zwar noch, es gebe keine Hinweise darauf, dass Lübckes Tod mit den Drohungen gegen ihn zusammenhängen könnte. Doch als am 15. Juni der Neonazi Stephan Ernst als mutmaßlicher Täter verhaftet wurde, veränderte der Diskurs sich sofort – und bekam bundesweite Brisanz.
Gedenken
Gottesdienst:Die Evangelische und die Katholische Kirche in Kassel laden auf Anregung von Organisationen aus dem „Kasseler Bündnis gegen Rechts“ zum ökumenischen Gedenkgottesdienst für den ermordeten Walter Lübcke ein. Beginn ist am Donnerstag, 4. Juni, um 18:30 Uhr in der Kirche St. Elisabeth am Friedrichsplatz. Aufgrund der Corona-Pandemie ist das Platzangebot begrenzt und Zugang nur mit Anmeldung möglich, die bis 3. Juni unter regionalhaus.kassel@bistum-fulda.de eingehen muss.
Fernsehen:Der Hessische Rundfunk hat mit dem RBB und SWR den Film „Tödlicher Hass – Der Mordfall Walter Lübcke“ produziert. Er wird am 8. Juni um 22.30 Uhr im Ersten ausgestrahlt und ist bereits vom 1. Juni an in der ARD-Mediathek abrufbar.
Offener Kanal:Vier Offene Kanäle in Kassel, Fulda, Gießen und Rhein/Main zeigen am 2. Juni ab 16 Uhr die Debatte „Haltung zeigen!“. Zu sehen im digitalen Kabelnetz auf dem Programmplatz 391 und per Livestream unter www.lpr-hessen.de/medienprojektzentren. pit
Unzählige Menschen sind in der Bundesrepublik von Neonazis ermordet worden – Experten gehen von mehr als 200 Opfern rechtsextremer Gewalt seit 1990 aus –, aber einen prominenten CDU-Politiker hatte es bisher nicht getroffen. Auch wenn für Ernst bis jetzt die Unschuldsvermutung gilt, begann eine neue Debatte über die Gefahr durch rechten Terror, die durch den versuchten Massenmord an Jüdinnen und Juden in Halle im Oktober vorigen Jahres und den rassistischen Anschlag in Hanau im vergangenen Februar mit zehn Todesopfern weitere Nahrung erhielt. Ohne die Corona-Krise wären Rassismus und Neonaziterror vielleicht jetzt noch die beherrschenden Themen.
Der Prozess gegen Walter Lübckes mutmaßlichen Mörder könnte noch im Juni eröffnet werden. Die Bundesanwaltschaft, die den Fall wegen seiner Bedeutung an sich gezogen hat, geht davon aus, dass Stephan Ernst den Politiker heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen ermordet hat und seine „von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragene völkisch-nationalistische Grundhaltung“ ausschlaggebend für die Tat war. Seit er gemeinsam mit seinem Kameraden Markus H., der wegen Beihilfe zu dem Mord mitangeklagt ist, 2015 besagte Bürgerversammlung in Lohfelden besucht habe, sei Ernst entschlossen gewesen, Lübcke wegen seiner Haltung zur Flüchtlingspolitik „abzustrafen“. Markus H. sei in die Mordpläne zwar nicht eingeweiht gewesen, habe Ernst aber „Zuspruch und Sicherheit für dessen Tat“ gewährt.
Der Bundesgerichtshof, der Ernsts Untersuchungshaft im Januar und April durch zwei Beschlüsse verlängert hat, folgt der Anklagebehörde in weiten Teilen. Ernst sei dringend tatverdächtig; auch wenn er den Ablauf der Tatnacht inzwischen anders schildere, habe er den Mord zunächst glaubwürdig gestanden. Außerdem seien an Lübckes Kleidung DNA-Spuren gefunden worden, die mit großer Sicherheit von Ernst stammten. Dieser sei also „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ der Täter – und die schon seit fast einem Jahr andauernde Untersuchungshaft angemessen.
Ob Stephan Ernst Walter Lübcke erschossen hat, wird sich erst vor Gericht klären. Lübckes Familie wird im Saal sitzen und auf ein gerechtes Urteil hoffen. Linderung für ihr Leiden versprechen sich die Hinterbliebenen aber auch von der juristischen Aufklärung des Falles nicht. Die vor einem Jahr gerissenen Wunden, so drückt es die Familie in ihrer Erklärung aus, würden „sicher nie wirklich vernarben“.
Der Angeklagte Stephan Ernst wird in unserer Berichterstattung mit vollem Namen genannt, der zweite Angeklagte Markus H. dagegen mit abgekürztem Namen. Grundsätzlich gilt bei der Berichterstattung aus Strafverfahren die Unschuldsvermutung, daher werden in der Regel keine vollen Namen genannt. Dies gestaltet sich anders, wenn eine Tat außergewöhnlich schwer wiegt und der Angeklagte oder sein Verteidiger den Schutz der Identität durchbrechen. Dies ist im Fall von Stephan Ernst der Fall. FR