Digitale Fans in Dänemark

Ein Hauch von Kollektivrausch

Zum Wiederbeginn der Liga hat der dänische Klub Aarhus GF Zuschauer virtuell auf die Tribünen eingeladen: zum gemeinsamen Jubeln in Corona-Zeiten. Das hat Charme und Tücken. Erfahrungsbericht aus einer anderen Fan-Welt.

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Während des Spiels von Aarhus GF gegen Randers FC konnten sich Fans über Zoom auf der Tribüne zuschalten
Henning Bagger/ AP

Auf dem Rasen des Fußballstadions von Aarhus steht der Popsänger Thomas Helmig, eine Art dänischer Bono mit Lederjacke, Sonnenbrille und grauer Gelfrisur. Helmig stimmt "Malaga" an, die Vereinshymne des Fußballvereins Aarhus GF. "Gute Nacht, Malaga. Gute Nacht, Kopenhagen. Aber ich schließe meine Augen in Aarhus", so geht der Text. Mehr als zehntausend Fans singen ihn mit - jeder zugleich im Stadion und in seinem eigenen Zuhause.

Die Anhänger bei diesem Spiel sind zugeschaltet über die Videoplattform Zoom. Sie bilden die erste virtuelle Zuschauertribüne im europäischen Fußball. Zum Neustart der dänischen Superliga am Donnerstagabend hat sich Aarhus GF etwas Besonderes überlegt. Weil körperliche Anwesenheit im Stadion wegen Corona nicht möglich ist, hat der Verein die Fans digital auf die Tribüne eingeladen. 22 große Bildschirme stehen auf den Rängen. Online konnte man sich für die einzelnen Blöcke registrieren. Wer sich zu Hause mit der Webcam filmt, ist im Stadion für die Spieler sichtbar. Und für alle Blocknachbarn auch.

Man versteht kaum ein Wort

In Block C2, Gegentribüne Unterrang, sind bei Anpfiff 226 Menschen versammelt, mehr Männer als Frauen, viele Kinder, die meisten tragen weiße AGF-Trikots. In diesem virtuellen Raum kann jeder alle hören - und das ist ein Problem. Einer redet immer. Niemand kann ausreden, weil der Algorithmus schon der nächsten Tonspur den Vorrang gibt. Ständig schiebt sich eine neue Videokachel in den Vordergrund. Man versteht kaum ein Wort.

Weil sich mündliche Kommunikation als unmöglich erweist, weichen die Zuschauer auf den öffentlichen Chat aus, ein paar "Hejs", stolze Grüße aus Singapur, den USA und Argentinien. Und immer wieder die Buchstaben "KSDH". Der Aarhuser GF hat praktischerweise einen leicht zu tippenden Schlachtruf: "KSDH". Das bedeutet: "Kom så de Hvide" – auf geht’s ihr Weißen.

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Die Spieler sehen die Fans auf Bildschirmen im Stadion, aber die Fans sehen das Spiel nur über den Second Screen
HENNING BAGGER/ AFP

KSDH wird, das stellt man schnell fest, als Gruß verwendet, als Anfeuerungsruf, als Frage und als Antwort, als universelle Äußerung der Zugehörigkeit, der Identifikation mit demselben Ziel: einem Sieg hier heute gegen den Randers FC. Der ist zwar nur Siebter in der Tabelle, Aarhus Dritter, aber dennoch ist er ein Angstgegner. Acht der letzten elf Partien gegen Randers gingen für Aarhus verloren, der letzte Heimsieg ist fünf Jahre her. Mit virtueller Unterstützung soll das anders werden. Also rein ins Spiel – wenn man es denn sehen kann.

"Is this a second screen experience?", schreibt ein Amerikaner kurz nach Anpfiff. Sieht man das Spiel hier gar nicht? Braucht man einen zweiten Bildschirm? Ja, braucht man. Das Ticket für die virtuelle Tribüne ist nur die Eintrittskarte zum gemeinsamen Jubeln. Der Verein hat keine Senderechte für das Geschehen auf dem Platz. In Dänemark übertragen Bezahlsender. International meist nicht mal die. In Deutschland muss man auf den Livestream eines Wettanbieters ausweichen.

Das ist vielen Anhängern an diesem Abend dann doch zu aufwendig. Fünf Minuten nach Anpfiff haben über 40 verhinderte Schaulustige Block C2 schon wieder verlassen. Andere bleiben hartnäckig. Ob nicht jemand in Dänemark seinen Fernseher abfilmen könnte, fragt ein Portugiese. Jemand kann – aber sofort wird seine Videokachel schwarz. Die Moderatoren haben die Kamera abgeschaltet. Vier von ihnen hat der Verein abgestellt, um allein in diesem Block für Ordnung zu sorgen. Sie haben digitale Sonderrechte, können Einzelne stummschalten oder aus der Videositzung entfernen.

Blicke in fremde Wohnzimmer

Bei schwerwiegenden Verstößen gegen die virtuelle Stadionordnung werde die Polizei informiert, die Daten der Täter weitergegeben, so hieß es in der Einladungsmail des Vereins. Aber in Block C2 müssen die Moderatoren kein weiteres Mal eingreifen. Sind Fans beherrschter, wenn Sie nicht am Ort des Geschehens sind?

Aarhus gegen Randers gilt als Derby, die beiden Städte liegen nur rund 40 Kilometer voneinander entfernt, die Fans können sich nicht leiden. Aber schon Mitte der ersten Halbzeit schauen viele in Block C2 weder aufs Spiel, noch auf die anderen Zuschauer, sondern auf den Third Screen: das Handy. Nach einer halben Stunde fragt ein amerikanischer Gast auf Englisch, offensichtlich immer noch ohne Zugriff auf die Spielübertragung: "Ist da gerade ein Tor gefallen?"

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Ein Fan auf der virtuellen Tribüne: Ein Rückstand sieht überall gleich aus
HENNING BAGGER/ AFP

Tatsächlich, 37. Minute, Gegentor. Wer nur die Fans betrachtet, bekommt es kaum mit. Der österreichische Randers-Verteidiger Simon Piesinger läuft mit Ball über die Mittellinie, sieht, dass der Torwart weit vor dem Kasten steht. Traumtor aus rund 40 Metern. Joshua Kimmich würde anerkennend nicken.

In Block C2 nickt niemand. Der Amerikaner erklärt allen freundlich, woran er das Gegentor erkannt habe: "I only speak English, but the images of people with hands on their head, looks of disappointment, howls of despair, are universal and need no language." Ein Rückstand sieht überall gleich aus.

Weil das Spiel nur vor sich hinplätschert, schaut man sich die Fans genauer an. Ken massiert sich sorgenvoll die Glatze. Anders hält seinen Freund im Arm, an der Wand hinter ihnen eine Matrosenmütze aus Bügelperlen. Die leeren Bierdosen einer Mädelsrunde in Trainingsanzügen passen nicht mehr alle auf den Terrassentisch. Ein Italiener, der vor Anpfiff umständlich erklärt hatte, er sei aus Verona, nicht Genua, "KSDH by the way", trägt AGF-Trikot und telefoniert mit einem Pietro.

Soll man die Wohnzimmerwand anfeuern?

In der 81 Minute zeigt der Zuschauerzähler nur noch 99 Fans im Block. Allerdings haben auch davon einige aufgegeben. Sie sind gegangen, aber die Kamera läuft weiter. Wer will, kann sich durch Standbilder dänischer Wohnträume klicken: zwei Küchenzeilen, unterschiedlich sauber; eine große Fensterfront mit aufgeklebten Vogelsilhouetten, ein rosa-blau-roter Flauschteppich auf dem ein Föhn liegt mit Knoten im Kabel.

Immer noch 0:1. Die letzten Minuten, da können Fankurven ganze Spiele entscheiden. "Kommt schon, die Spieler brauchen eure Unterstützung, jubelt weiter", schreibt einer der Moderatoren in den Chat. Zwei müde KSDHs. Was soll man auch machen? Die Wohnzimmerwand anfeuern?

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In der zweiten Minute der Nachspielzeit sind noch 83 Fans im Block. Und als wollte er das Hoffen der Treuen um keinen Preis enttäuschen, rennt Aarhus-Stürmer Patrick Mortensen in den Strafraum. Ein Rückpass, ein platzierter, flacher Schuss: Ausgleich.

Plötzlich ist da ein Hauch von Kollektivrausch. Rufen, Jubeln, Kreischen, alle Tonlagen, digital verrauscht. Zoom wechselt überfordert zwischen den Videokacheln hin und her. Blonde Kinder hüpfen über Sofalandschaften, die Terrassen-Mädels haben beim Aufspringen die Bierdosen vom Tisch gefegt und der Italiener, immer noch mit Pietro am Telefon, klopft sich lachend auf das AGF-Wappen auf seinem Trikot. Nur der Föhn bleibt cool liegen.

Im Jubel geht der Abpfiff unter. Jetzt ist die Stimmung gelöst, noch ein mal KSDH, man will ein paar Worte wechseln, sich austauschen über das Spiel, wie man das so macht auf dem Weg aus dem Stadion. Aber da, zwei Minuten nach Schlusspfiff, haben die Moderatoren die Videokonferenz schon geschlossen. Im Postfach ploppt eine Mail aus Dänemark auf: Hier lang zu den virtuellen Ticktes für das nächste Spiel am Montag.

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