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Auf der Tribüne sehr einsam: Düsseldorfs Ersatzspieler schauen den Kollegen zu.© dpa
Bundesliga

Leben im verwaisten Wohnzimmer

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Der Notbetrieb in den gespenstisch leeren Bundesliga-Stadien produziert neben skurrilen Bildern auch erstaunliche Erkenntnisse.

Ein sichtbares Zeichen für den Notbetrieb findet sich derzeit in den Toilettenräumen eines jeden Bundesligastadions. Jedes zweite Urinal ist nämlich fein säuberlich verklebt, um auch an stillen Örtchen den Mindestabstand zu gewährleisten. Beim FSV Mainz 05 haben sie dafür mausgraues Klebeband genommen, obwohl die Vereinsfarben für eine Sperrzone durchaus passend wären. Aber auch der selbst ernannte Karnevalsverein verzichtet in der Corona-Krise auf jeden Firlefanz. Sogar die Zuschauerzahl wird richtig verlesen. 300. Und nicht 305. Im Normalbetrieb hängen die Mainzer an die offizielle Zuschauerzahl – Achtung: Witz – stets eine „5“. Purismus statt Hokuspokus gilt im Geisterspiel-Betrieb für alle Bereiche.

Es scheint, dass weitaus mehr Menschen diese von den üblichen Emotionen befreite, in den Stadien noch steriler als am Fernsehschirm wirkende Überbrückungsform gutheißen als vor dem Restart diverse Umfragen ergeben haben. Der TV-Sender Sky, dessen Zahlungen die wichtigste Einnahmesäule der Lizenzvereine bildet, verzeichnete am vergangenen Wochenende knapp 5,8 Millionen Zuschauer. Ein herausragendes Ergebnis. In die Neugier mischt sich die Spannung auf der Zielgeraden.

Und wer vor Ort anwesend ist, kommt um diese Einsicht nicht umhin: Man kann am stillen Betrieb auch etwas Positives finden. Man muss beispielsweise nur ein bisschen lauschen, um die Hierarchien in den einzelnen Teams herauszuhören. Kevin Trapp (Eintracht Frankfurt) ruft Publikumsliebling Martin Hinteregger zurück, Peter Gulacsi (RB Leipzig) schreit Torjäger Timo Werner an. Gute Torleute sind das laute Gewissen ihrer Mannschaft. Strapazierfähige Stimmbänder haben auch die Trainer immer schon gebraucht. Vor der Pandemie haben Fußballlehrer allenfalls die erste Halbzeit ihrem Rechtsverteidiger, die zweite ihrem Linksverteidiger etwas zurufen können. Jetzt erreichen sie alle.

Noch mehr als früher geht es auf dem Spielfeld um die Qualität. Der vielgerühmte zwölfte Mann ist kein Faktor mehr. Ein mit letzter Konsequenz geführter Pressschlag dröhnt in der Frankfurter Arena mit seinem luftigen Dach bis in die letzte Reihe. Doch anders als früher kann auch der Gast daraus Kraft schöpfen. Das Virus hat den Heimvorteil gekillt. Die Bilanz nach drei Geisterspiel-Tagen: fünf Heimsiege, aber zwölf Auswärtserfolge. „Es gibt unglaublich viele Auswärtssiege – weil das Heimpublikum halt nicht da ist“, sagt Eintracht-Trainer Adi Hütter.

Der Österreicher war schon froh, dass seine Mannschaft ohne die Energiezufuhr von den Rängen auf den Rasen gegen den SC Freiburg (3:3) eine leidenschaftliche Leistung hinbekommen hatte. Dennoch ist die Eintracht (die 22 ihrer 29 Punkte zu Hause geholt hat) genau wie Union Berlin (20 von 31) akut gefährdet, wenn diese Saison gefühlt auf lauter neutralen Schauplätzen entschieden wird, deren Untermalung eher an Testkicks in Belek oder Marbella denn an die Umgebung eines Bundesligaspiels in Köln oder Dortmund erinnert. „Für uns ist es definitiv ein Nachteil, ohne Zuschauer zu Hause zu spielen“, sagte Michael Zorc, Sportdirektor von Borussia Dortmund, nach dem Nackenschlag im Spitzenspiel gegen den FC Bayern (0:1).

Vor acht Jahren kämpfte der BVB in einer ähnlichen Konstellation die Bayern nieder, und nachdem Arjen Robben einen Elfmeter vergab, baute sich Neven Subotic direkt vor ihm auf. Die Massen hatten ihn damals mit Adrenalin aufgepumpt. Zorc sagt: „Auf die Südtribüne zu spielen, das löst bei uns was aus, und es löst auch beim Gegner etwas aus.“ Erste Teams versuchen, die Unterstützung zu ersetzen, indem Ersatzspieler, Co-Trainer, Betreuer und Masseure zu ihren Fans werden.

Als der SV Werder an einem Montagabend gegen Bayer Leverkusen leblos verlor (1:4), hatten es sich die Reservisten noch mit ausgebreiteten Beinen auf den grünen Schalensitzen bequem gemacht, um von den Stammplätzen der treuen Dauerkarteninhaber beinahe gelangweilt den gruseligen Kick zu verfolgen. Als dieselbe Mannschaft gegen Borussia Mönchengladbach (0:0) viel besser spielte – für die wenigen Beobachter war es sogar die beste Saisonleistung –, stellte sich das anders dar: Am vergangenen Dienstag feuerten sich dieselben Protagonisten penetrant an.

Man will Leben reinbringen ins verwaiste Wohnzimmer; auch am nächsten Mittwoch beim Nachholspiel gegen Eintracht Frankfurt. Der Bremer Ansatz könnte Nachahmer finden: Normalerweise packt die Profis spätestens beim Bußgang in die Fankurve nach einer schwachen Leistung das schlechte Gewissen, jetzt fällt diese moralische Instanz vollkommen weg. Auch Pressekonferenzen mit Journalisten, Gespräche in der Mixed Zone am Flatterband sind Vergangenheit, Stimmen der Protagonisten gibt es allenfalls virtuell oder aus sicherer Entfernung mit der extralangen Tonangel eingefangen.

Auch die Hauptdarsteller, Trainer und Spieler lernen, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Womöglich werden in einigen Monaten (oder Jahren?) viele darüber schmunzeln, wie das aussah, als der Mund-Nasen-Schutz zur Grundausrüstung eines Fußballers gehörte wie Stollenschuh und Schienbeinschoner. Die peniblen Anweisungen der Hygieneregeln mögen zu viel Symbolik beinhalten – etwa wenn die Profis nach dem Auswechseln ihre Maske aufsetzen –, aber im Grunde hat dieser historische Rahmen ganz nebenbei Regeln für ein besseres Miteinander geliefert.

Es gibt kaum noch Rudelbildung, selten Gewese. Weniger Gestik, weniger Theatralik spielt mit. Davon profitieren vor allem die Schiedsrichter. Deniz Aytekin berichtete in der vergangenen Woche im ZDF-Sportstudio vom Revierderby Borussia Dortmund gegen FC Schalke (4:0) Erstaunliches. „Ich muss zugeben, dass ich beim Derby Pulswerte hatte, die extrem niedrig waren im Vergleich zu den Spielen mit Zuschauern“, sagte einer der beliebtesten Referees. Ohne die stressigen Umstände verfeindeter Fanlager war sein Herz beruhigt. Trotzdem will Aytekin, und das klang noch beruhigender, den Stadionbesucher niemals missen. Ihm fehle total das Gefühl, gepusht zu werden. Es gebe Zuschauer mit Dauerkarten, die man teilweise seit Jahren kenne und sogar grüße, erzählt der Unparteiische. Das fehle, weil „auch wir letztendlich diese Leidenschaft leben“.