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Erdogan, Wahrer der Demokratie. Sagt er in aller Bescheidenheit von sich selbst.© REUTERS
Türkei

Erdogan erfindet den Antifaschismus

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Der türkische Präsident deckt angebliche Putschpläne der Opposition auf. So kann er bestens von echten Problemen ablenken.

Noch kämpft die Türkei gegen das Coronavirus, da hat Staatschef Recep Tayyip Erdogan bereits einen neuen, einen noch gefährlicheren Feind ausgemacht. Es ist die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte Oppositionspartei. Die CHP habe „eine faschistische Mentalität“, sie könne „die Demokratie, den Rechtsstaat und Wahlen nicht verdauen“, sie sehne sich „immer noch nach Bevormundung, Coups und Juntas“. Ziel der CHP sei es, „den Staat zu unterwandern und mit einem Putsch an die Macht zu kommen, statt mit Wahlen“, eröffnete Erdogan jüngst dem türkischen Volk in einer Fernsehansprache.

Und diese Eröffnungen lassen die Öffentlichkeit nun nicht mehr los. Vor allem regierungsnahe Medien kultivieren die Angst vor einem Coup und verbreiten Bürgerkriegsszenarien: „Für jeden einzelnen Blutstropfen von Erdogan werden wir das Blut von Millionen vergießen“ drohte ein Medienbeschäftigter per Video. Der Staatschef selbst legte ebenfalls nach. Er beschuldigte die CHP-Bürgermeister der Städte Istanbul und Ankara – die eigene Corona-Hilfsprogramme für ihre Bürger aufgelegt hatten – sie wollten einen „Staat im Staate“ schaffen.

Die Steilvorlage für das Putschgerede hatte die Istanbuler CHP-Provinzchefin Canan Kaftancioglu geliefert, als sie Ende April im Fernsehen frank und frei heraus sagte, sie erwarte in nächster Zeit „einen Regierungswechsel oder sogar einen Systemwechsel durch vorzeitige Wahlen oder auf anderem Wege“. Die Politikerin versicherte zwar hernach, sie habe nicht an einen Staatsstreich gedacht. Dennoch waren ihre Äußerungen ein gefundenes Fressen für die Regierung.

Putschgerüchte fallen in der Türkei seit jeher auf fruchtbaren Boden. Seit 1960 hat das türkische Militär fünf Mal gewählte Regierungen gestürzt. Der jüngste Putschversuch datiert vom 15. Juli 2016, als eine Gruppe von Offizieren Erdogan abzusetzen versuchte. Der Präsident entkam dem nur knapp. Er konnte in letzter Minute aus seinem Urlaubsort Marmaris nach Istanbul fliehen. Der Staatsstreich scheiterte binnen weniger Stunden. Erdogan ließ 19 397 mutmaßliche Verschwörer aus den Streitkräften entfernen. Rund 150 000 Staatsbedienstete wurden entlassen, nahezu 50 000 politische Gefangene sitzen noch ein. Heute ist Erdogan stärker denn je.

Die Spekulationen über einen neuen Staatsstreich kommen ihm aber sehr gelegen. Sie lenken nämlich die türkische Öffentlichkeit von der zunehmend schwierigen Wirtschaftslage des Landes ab. Die Corona-Epidemie könnte die Türkei zurück in die Rezession werfen. Es gibt immer mehr Arbeitslose. Die Lira fiel diesen Monat auf einen neuen Tiefstand. Umfragen lassen erwarten, dass Erdogan seine Parlamentsmehrheit verlieren würde, wenn es jetzt Wahlen gäbe.

Der Druck auf Dissidenten nimmt deshalb zu. „Unter dieser Regierung wird jeder Oppositionelle, der Veränderungen einfordert, als Putschist abgestempelt“, sagt der CHP-Abgeordnete Murat Emir. „Das Ziel ist klar: Die reale politische Agenda soll überdeckt werden.“ Jede Kritik an Erdogan kann als Umsturzversuch ausgelegt und entsprechend hart geahndet werden. Das erfahren auch politische Häftlinge wie der Philanthrop Osman Kavala und der Schriftsteller Ahmet Alten. Ihnen werden Verbindungen zu den Putschisten von 2016 vorgeworfen. Seit Jahren kämpfen internationale Menschenrechtsorganisationen für die Dissidenten, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ordnete ihre Freilassung an. Aber heute ist das unwahrscheinlicher denn je.