Twitter vs Trump: Angriff auf "das wichtigste Internetgesetz der Welt"

Mit seinen Anreizen für Social-Media-Anbieter, Beiträge von Nutzern nicht mehr auf Fakten zu checken, führt Trump die USA frontal auf Kollisionskurs mit Europa.

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Die Betreiber sozialer Netzwerke wie Twitter, Facebook, Instagram und YouTube sollen künftig weitgehend die Finger lassen von den Beiträgen ihrer Nutzer. Vor allem Faktenchecks und eigene Einschätzungen zu Inhalten sollen nach dem Willen des US-Präsidenten tabu sein. Der entsprechende Erlass von Donald Trump hat nicht nur für die betroffenen Plattformen Konsequenzen, sondern auch eine Expertendebatte in Deutschland ausgelöst.

Auch wenn hierzulande gerade auf Basis eines Urteils des Oberlandesgerichts Karlsruhe eine Diskussion über die Zulässigkeit von Faktenchecks begonnen habe, dürften solche Gegendarstellungen zu umstrittenen Posts in Europa weiterhin erlaubt und von der EU-Kommission im Kampf gegen Desinformation etwa rund um die Corona-Krise auch erwünscht sein, erläutert der Dortmunder Medienrechtler Tobias Gostomzyk: "Deshalb könnte es hier auch zu einer transatlantischen Kollision kommen."

Restriktiveres EU-Recht

"Rein materiell widerspricht die Verfügung den in Europa vorherrschenden Ansätzen im Äußerungsrecht und der restriktiveren Regulierung von schädlichen Inhalten", weiß Stephan Dreyer vom Hamburger Leibniz-Institut für Medienforschung alias Hans-Bredow-Institut: Verglichen mit den USA gehe der EU-Rechtsrahmen schon jetzt von einer weiteren Einschränkbarkeit der freien Rede aus.

Dieser Gegensatz dürfte sich laut Dreyer mit der Initiative Trumps verschärfen. Das Dekret schaffe "ein rabiates Anreizsystem": Plattformen könnten nicht belangt werden, wenn sie alle nutzergenerierten Inhalte einfach "in Ruhe" ließen. Ausnahmen von diesem Grundsatz gälten zwar nach wie vor etwa noch für strafrechtlich unzulässige oder urheberrechtlich geschützte Inhalte. Aber für alle anderen Formen von Aussagen, die fragwürdig, desinformierend, manipulativ oder propagandistisch seien, wäre es für die Anbieter in Zukunft besser, "alles unverändert online stehen zu lassen".

"Free Speech"-Doktrin

"Das entspricht einer der radikaleren Sichtweisen auf die US-amerikanische 'Free Speech'-Doktrin", führt der Medienforscher aus. Die vor allem in Europa immer wieder ins Spiel gebrachten breit diskutierten Maßnahmen gegen Hasskommentare, Falschinformation sowie manipulative Äußerungen und Propaganda dürften den Betreiber daher nicht mehr "attraktiv" erschienen. Würden die Plattformen entsprechende Ansätze wie "Fact-Checking-Angebote, Auszeichnen von zweifelhaften Aussagen, Löschungen oder Downranking" nicht mehr unterstützen, könnten solche umstrittenen Inhalte ein noch viel größeres Publikum finden.

Das politische Meinungsspektrum bewege sich derzeit zwischen zwei Alternativen, konstatiert Dreyer: "Wollen wir, dass der Staat wieder stärker das Zepter in die Hand nimmt und den Anbietern mit starken Gesetzen vorgibt, was rechtlich geht und was nicht?" Das ginge mit einer Abkehr von den bisherigen Haftungsprivilegien der Plattformen einher. Oder sollten die Entscheidungsverfahren auf Seiten der Betreiber stärker rechtlich vorgeprägt und kontrolliert werden, "um Willkür zu verhindern und Grundrechte zu sichern?"

Für diesen zweiten Regulierungsansatz dürfte sich die EU-Kommission mit dem Ende des Jahres erwarteten Entwurf für einen "Digital Services Act" aussprechen. Für den Medienwissenschaftler steckt dahinter mit Blick auf Desinformation "auch die Grundsatzfrage, wer darüber entscheiden soll, was wahr und was falsch ist. Es ist ein Kampf um Deutungshoheit über gesellschaftlich geteiltes Wissen."

Mit "Section 230 CDA" stehe durch die Anordnung das "wichtigste Internetgesetz der Welt" zumindest vor einer Neuinterpretation, gibt Dreyers Bredow-Kollege Matthias Kettemann zu bedenken. Der Abschnitt befreie Anbieter von der Haftung für die Publikation nutzergenerierter Inhalte. Wenn nun Trump versuche, Twitter & Co. zu verbieten, seine Inhalte zu kommentieren, könnten die Plattformen dazu übergehen, "seine Tweets ganz zu löschen". Damit hätte der Präsident sein Blatt aber überspielt, da Twitter ihn bisher "weit besser" behandelt habe als andere User.

"Weitreichende Privilegierung"

Für unbestritten hält es der Stuttgarter Medienrechtler Tobias Keber, dass die "originär weitreichende Privilegierung" von Providern schon angesichts der technischen Entwicklung etwa durch den Einsatz von Algorithmen bei der Priorisierung angezeigter Inhalte Anpassungen bedürfe. Bei den Haftungsfreistellungen handle es sich aber auch um ein wichtiges Instrument, "das für die Entwicklung des Internets als freiem Kommunikationsraum von zentraler Bedeutung ist". Reformen müssten daher "mit hinreichender Sensibilität für das die Problematik umspannende komplexe Grundrechtegeflecht erfolgen".

Die US-Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) bezeichnete die Verfügung als "Angriff auf die freie Meinungsäußerung" im Internet. Michael Abramowitz von der zivilgesellschaftlichen Organisation Freedom House riet dem Präsidenten, die Finger vom CDA zu lassen. Die darin enthaltenen Schutzbestimmungen gewährleisteten, dass Nutzer sich im rechtmäßigen Rahmen frei äußern und Firmen "verbannte Inhalte" notfalls löschen könnten.

Jessica Rosenworcel von der Federal Communications Commission (FCC) kritisierte, das Trump die Regulierungsbehörde zur "Sprach-Polizei des Präsidenten" machen wolle, was keine Lösung für die Probleme der Branche sei. Facebook warnte, dass der Plan für die Plattform auch bedeuten könnte, gegen mehr statt weniger Beiträge vorzugehen. Google monierte, dass ein ausgehöhlter CDA "Amerikas Wirtschaft und seiner globalen Führungsrolle bei der Freiheit im Internet schaden wird". (vbr)