Party in der Pandemie

Tanz, Schnaps und Naivität: Kölner Club öffnet trotz Corona

Der Kölner Diamonds-Club hat wieder geöffnet, trotz Pandemie und Disco-Verbot. Ein Experiment mit vielen Gefahren. Rekonstruktion einer Nacht, in der fast nichts so lief, wie es sollte.

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Feiern trotz Corona

Bei den ersten Partyversuchen gibt es deutliche Schwierigkeiten mit den Pandemie-Regeln.(Foto: dpa)

Köln. Sidos Stimme und ein heftiger Bass dröhnen aus den Boxen neben mir, als sich die Kellnerin zu mir herunterbeugt. Ich verstehe sie kaum, erkenne auch keine Mimik, denn sie trägt Mundschutz. Als ich endlich verstehe, was sie von mir will, liegen nur noch Zentimeter zwischen ihrem Gesicht und meinem. „Was willst du trinken?“, brüllt sie gegen Sido und den Bass an, sodass ich ihren Atem auf meiner Wange spüre.

Hätte ich Corona nicht schon gehabt – spätestens jetzt wäre ich in Panik: Eine fremde Frau, eine Handbreit entfernt, haucht mich an, der Inhalt ihres letzten Atemzuges mischt sich unausweichlich in den Inhalt meines nächsten. Im Tagesschau-Infovideo hätte ich die Aerosole, die winzigen Bläschen, über die Menschen das Virus übertragen, zwangsläufig eingeatmet. Dargestellt als rote Pünktchen wären sie in meinen Hals gewandert, hätten sich im Rachen festgesetzt, dann in der Lunge, irgendwann vielleicht auch in den Nieren und im Herz.

Aber all das habe ich bereits hinter mir.

Vielleicht ziehen sich meine Muskeln gerade deshalb zusammen. Ruckartig weiche ich auf meinem Sitz zurück. Und auch sie macht einen schnellen Schritt nach hinten. Als hätte sie der Moment der plötzlichen Nähe zwischen uns genauso erschreckt wie mich.

Dabei hatte der Abend vielversprechend angefangen: Schon die Vorstellung, nach Monaten der Isolation und Bettruhe endlich wieder einmal zu tanzen, war genial. Klar, es kämen sicherlich weniger Gäste, man würde strikt auf Abstand achten, sich nicht so frei fühlen wie beim „richtigen“ Feiern. Und doch wäre es ein kleiner Schritt in die neue Normalität. Endlich wieder mitsingen, lachen, wenn auch in einem Club, in den ich ansonsten nicht gehe – laut meinen Freunden „ganz, ganz schlimm“, „total assi“, „ein richtiger Prollo-Laden“.

Einer der Freunde heißt Tom. Er ist neugierig, sagt er, und ein bisschen angetrunken. Es ist warm, wir schlendern durch die Stadt, Gruppen junger Menschen kommen uns entgegen, weil Mitarbeiter des Ordnungsamtes gerade den Brüsseler Platz geräumt haben: Zu viele Menschen an einem Ort.

Nur wer sitzt, darf die Maske abnehmen

An den Kölner „Ringen“ reiht sich Club an Club, normalerweise wäre der komplette Hohenzollernring am ersten lauen Abend des Jahres in Feierlaune. Heute aber ist alles dunkel, nur im Diamonds brennt Licht. Am Eingang begrüßt uns ein Mitarbeiter, wir hinterlegen unsere Handynummern, dann erklärt er die wichtigste Regel: Nur wer sitzt, darf die Maske abnehmen. Wir desinfizieren unsere Hände, folgen ihm durch einen roten Gang und hinunter in den Keller.

Etwa zwanzig Menschen sitzen in dem großen Raum, der kalt und kahl und ein bisschen traurig wirkt mit seinen leeren Wänden und bunten Lichtern, die kaum Menschen anstrahlen. Auf der Tanzfläche stehen Tische und Stühle, an einem sitzen zwei „aufgebrezelte Ladies“, so beschreibt sie Tom, etwa drei Meter entfernt drei Männer, „so aufgepumpte Fitness-Typen“. Der Mitarbeiter führt uns in eine Sitzecke am Ende der Tanzfläche. Wir nehmen die Masken ab.

Wenig später kommt die Kellnerin mit zwei Gin Tonic an unseren Tisch zurück, ich reiche ich ihr meine Karte. „Nee, nur Bargeld“, ruft sie durch den Mundschutz in mein Ohr. Als ich nach meinem Portemonnaie suche, schieben sich zwei junge Männer an ihr vorbei, setzen sich in die gegenüberliegende Ecke. Wenig später trinken wir zu viert Shots.

Die empfohlenen 150 Zentimeter Abstand müssen wir dafür aufgeben, das Personal stört sich daran nicht. Steven, so heißt der größere der beiden, redet mit Tom über Fußball. Für die Nacht im Club ist er mit dem Auto aus Koblenz nach Köln gekommen, sein Kumpel ist gefahren, eine Dreiviertelstunde, prahlt der. Manchmal nennt sich Steven auch José, er trägt ein teures Hemd und eine Designer-Kappe, in seinen Ohrläppchen funkeln dicke Steine. Auf Instagram zeigt er mir Fotos von seinen Reisen nach Venezuela, Brasilien, Miami Beach und Rheinland-Pfalz.

Reden ist schwer, zuhören noch schwerer, also drehe ich eine Runde. Der Club hat sich mittlerweile gefüllt. Rund um die Tanzfläche sitzen jetzt Menschen, einige stehen, viele tanzen, die drei DJs spielen eine Mischung aus RnB, Reggaeton und Deutschrap, ein Mann presst seine Hüfte an den Hintern einer Frau im Zebra-Overall. Am Ende des Dancefloors bemerke ich einen älteren Anzugträger, er blickt mich eindringlich an, hebt den Zeigefinger, deutet auf seine Maske. Ich habe meine am Platz vergessen.

„Ich nehm‘ das nicht so ernst“

Zurück in der Sitzecke setze ich mich zu Stevens Freund Justin, er ist etwas kleiner und schüchterner. Die beiden kennen sich vom Fußball, Justin ist bei der Bundeswehr, wegen Corona muss er seit drei Monaten nicht mehr zur Arbeit. Jetzt schaut er Netflix ohne Ende. Ob er Angst habe, sich anzustecken? „Nee. Ich nehm‘ das nicht so ernst“, sagt er, „das trifft doch eher alte Leute“. Komisch sei nur, niemanden richtig ansprechen zu können. Er schenkt mir Wodka nach, dann sich selbst, und fragt, ob ich nicht mal bei ihm übernachten möchte.

Auch Steven kommt mit einigen Frauen ins Gespräch. Da ist zum Beispiel Lili, sie tanzt, die Maske im Gesicht, einen Drink in der Hand, ihre Freundin filmt sie. „Wir durchleben gerade so eine verrückte Zeit, das muss ich unbedingt festhalten“, sagt sie mir. „Als wären wir alle in einem Raumschiff!“ Eigentlich wollte sie nur eine Freundin besuchen, dann sahen die Frauen den geöffneten Club, eine gemeinsame Bekannte stellte ihr später Steven vor.

Lili, angehende Ingenieurin aus China, und Steven, der aus dem Kongo kommt und „was mit Import-Export, dies und das“ macht, tauschen später Kontaktdaten auf ihren Handys aus. Angst, sich anzustecken, haben auch sie nicht. Steven sagt: „Als junger Mensch merkt man davon doch nichts.“ Lili sagt: „Ich glaube, in Deutschland ist das Schlimmste schon vorbei.“

Obwohl heute nur 85 Gäste in den Club dürfen, wird mir all das irgendwann zu viel: Die vielen Menschen, der enge Kontakt, meine Füße in den hohen Schuhen, die ich monatelang nicht getragen habe. Um fünf Uhr liege ich im Bett, draußen dämmert es.

Schuldgefühle

Am nächsten Morgen schmerzt mein Kopf, mir ist übel. Ich chatte mit Tom, ihm geht es ähnlich. „Seltsam, dieser Club“, findet er. „Jetzt habe ich fast schon ein schlechtes Gewissen. Auf die Regeln geachtet hat da ja niemand.“ Er fragt: „Meinst du, wir haben zur Verbreitung beigetragen?“ Meine Schuldgefühle halten sich in Grenzen, als Genesene gelte ich als immun, kann das Virus nicht mehr verbreiten. Angst, mich anzustecken, habe ich auch nicht mehr.

Nur die Sorglosigkeit der anderen verwundert mich rückblickend doch. Ich bin erst 28, habe keine Vorerkrankungen, lebe gesund, mache viel Sport. Trotzdem: Fünf Wochen lag ich krank im Bett, konnte nach vier davon erstmals wieder spazieren gehen, ganze zehn Minuten. Mittlerweile fahre ich wieder mit dem Rad zur Arbeit, mehr Sport geht immer noch nicht. Dafür wird mein Geruchssinn langsam wieder besser – Monate nach den ersten Symptomen. Den anderen Clubbesuchern würde ich gerne sagen: Ihr wisst gar nicht, was ihr riskiert. Wie fahrlässig ihr euch selbst und andere gefährdet.

Denn laut aktuellem Forschungsstand sind es vor allem junge Menschen, die das Virus verbreiten, und auch bei ihnen kann die Krankheit schwer verlaufen. Immer häufiger werden solche Verläufe erfasst, entgegen der gängigen Meinung zu Beginn der Pandemie, nach der das Virus nur für alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen gefährlich sei. 49 Prozent aller deutschen Millenials machen sich keine Corona-Sorgen, in der Gesamtbevölkerung sind es nur 18, im Diamonds wohl 100.

Die perfekte Brutstätte

Es dauert einige Tage, bis ich das ungute Gefühl, das mich seit der Nacht im Diamonds begleitet, endlich einordnen kann: Ich bin wütend. Darüber, dass junge Menschen das Virus nicht ernst nehmen. Noch wütender macht mich, dass das Diamonds ihnen, den Haupt-Verbreitern, den perfekten Ort zur Ansteckung bietet. Und darüber, dass der Betreiber, Kölns Club-König Yahya Firat, allen Ernstes glaubt, er könne die Sicherheit seiner Gäste gewährleisten.

Ich recherchiere im Netz, binnen Sekunden stoße ich auf Dutzende Artikel, in denen Virologen erklären, warum Clubs den idealen Infektionsraum bieten: geschlossene Räume, schlechte Belüftung, viele Menschen auf engem Raum. „Die perfekte Brutstätte“, „nichts ist schlimmer“, „wahre Corona-Hotspots“. Im besten Fall hat Firat nicht recherchiert. Im schlechtesten ist es ihm egal. Dass er den Eintritt auf 85 Menschen statt der üblichen 800 begrenzt, ändert nichts daran, dass sich Menschen beim Feiern unweigerlich näherkommen.

Um zu erfahren, unter welchen Auflagen Clubs wieder öffnen dürfen, rufe ich also beim Bundesverband deutscher Discotheken und Tanzbetriebe an. Dort erklärt man mir, man folge den Richtlinien der Bundesländer. In Nordrhein-Westfalen, so lese ich, gilt derzeit die Coronaschutzverordnung CoronaSchVO, in der aktuellen Fassung heißt es: „Der Betrieb der folgenden Einrichtungen und Begegnungsstätten sowie die folgenden Angebote sind untersagt: 1. Bars, Clubs, Diskotheken“.

Warum durfte das Diamonds trotzdem öffnen? Ein Mitarbeiter der Stadt erklärt mir, Firat hätte lediglich ein Konzert veranstalten wollen. Später schreibt er mir, dass im Diamonds unter Umständen „eine Reduzierung der Betriebsart auf eine reine Schankwirtschaft“ möglich wäre – „sofern die Voraussetzungen dafür auch wirklich vorliegen“. Ob das Ordnungsamt das Diamonds kontrolliert hat? Nein, das habe man nicht. Ob Firat jetzt Konsequenzen drohen, schließlich sei der Betrieb von Clubs verboten? Bei „belegbaren Verstößen gegen die rechtlichen Vorgaben“ könnten Bußgelder folgen, vielleicht auch eine Unterlassungsverfügung.

Samstag wird wieder getanzt

Was mich außerdem beschäftigt: Könnten sich die anderen angesteckt haben? Eine Woche später frage ich Tom, Steven, Justin und Lili, wie sie sich fühlen. Bei einer Ansteckung würde es fünf bis sechs Tage dauern, bis erste Symptome auftreten, maximal 14 – vorausgesetzt, sie gehören zu jenen, die sich krank fühlen. Steven ist „total fit“, Justin „überhaupt kein bisschen krank“, auch Lili fühlt sich gesund, aber sie hat ein schlechtes Gewissen. Als sie ihren Freunden vom Clubbesuch erzählte, hätten die sie ziemlich doof angemacht. „Steck‘ uns nicht an, bleib besser weg“, hätten sie gesagt.

Nur Toms Hals kratzt ein paar Tage später. „Aber das ist nur, weil ich heiser bin“, sagt er. „Man musste ja auch so brüllen in dem Laden.“ Kurz darauf ist die Stimme wieder da. Und sonst so? Steven und Justin wollen am Wochenende wieder ins Diamonds, haben sogar schon reserviert. „Samstag wird richtig abgegangen“, schreibt mir Steven. „Hoff‘ du bist dabei?“

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