Neues Album "Chromatica"

Lady Gaga tanzt sich frei

A star is reborn: Mit "Chromatica" will sich Lady Gaga vom Ballast der Vergangenheit befreien, von Depression und Drogensucht. Es ist ein beglückend euphorisches Dance-Album geworden.

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Popstar Lady Gaga
Brandon Bowen

Tanzen hatte schon immer einen befreienden Effekt, geistig wie gesellschaftlich. Kein Wunder, dass sich nach fast drei Monaten Corona-bedingter Ausgangssperre viele danach sehnen, endlich wieder alle Sorgen und Beschwernisse auf dem Dancefloor loslassen zu können. Leider werden die Clubs aber wohl noch eine ganze Weile lang geschlossen bleiben. Deshalb kommt "Chromatica", das sechste Album von Lady Gaga, eigentlich immer noch zu früh - und doch genau zum richtigen Zeitpunkt.

Darauf besinnt sich die 34-jährige Sängerin und Musikerin auf ihre Herkunft in der queeren Club- und Disco-Kultur ihrer Heimatstadt New York. Es ist ein nahezu klassisches Dance-Pop-Album, das mit House- und Techno-Zitaten aus den Neunzigerjahren spielt. "Just Dance" hieß 2008 ihre Debüt-Single, noch bevor sie wenig später zum globalen Superstar mit Hits wie "Poker Face" und "Born This Way" wurde.

Gespür für Trends und Zeitgeist

Wie kaum eine andere Pop-Künstlerin dieser Zeit, mit Ausnahme von vielleicht Beyoncé, beherrscht es Lady Gaga perfekt, ihre persönliche Geschichte mit einem Gespür für Trends und Zeitgeist zu verknüpfen. Optimistischer, euphorischer Dance-Pop, wie er jetzt auch "Chromatica" definiert, ist mit Alben von Dua Lipa und The Weeknd gerade dominant in den Charts und Airplays. Gleichzeitig ist die Beschäftigung mit psychischen Erkrankungen, die mit Drogen, Opioiden oder Alkohol betäubt werden, eines der bestimmenden Themen der aktuellen Jugend- und Popkultur.

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Brandon Bowen
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Lady Gaga

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Und genau darum geht es auf "Chromatica", wieder einmal, muss man sagen. Achtsamkeit und der Kampf für Selbstliebe und Heilung sind Gagas Ur-Themen, aber leichter und unbeschwerter klang sie selten. Die Songs des Albums, sagt sie, seien das Ergebnis einer tiefen Auseinandersetzung mit den Beschwernissen ihrer Vergangenheit: Als 19-Jährige sei sie mehrfach vergewaltigt worden, die erlittenen Traumata müsse sie bis heute mit Psychopharmaka bekämpfen. Immer wieder sei sie in den vergangenen zehn Jahren depressiv oder drogenabhängig gewesen.

Lange war offen, wie Lady Gaga weitermachen würde. "Kann Lady Gaga noch einmal der weltgrößte Popstar werden?", fragte noch vor wenigen Wochen die BBC skeptisch. Gäbe es in der Pop-Landschaft von 2020 noch einen Platz für den Superstar der Zehnerjahre – und würde das Konzept der Image-Wandlungen und Neuerfindungen, das sich Gaga schon immer von ihrem Vorbild Madonna abgeguckt hatte, auch diesmal funktionieren?

Diese Frage schien bereits am vergangenen Wochenende beantwortet: Die Single "Rain On Me" wurde binnen weniger Stunden zum Streaming-Superhit, auf YouTube hat das Video inzwischen mehr als 60 Millionen Abrufe. Allerdings könnte das auch an ihrer Duett-Partnerin liegen: die jüngere, in der Zwischenzeit immens erfolgreich gewordene Sängerin Ariana Grande.

Auf dem Album gibt es mit der bei Teenagern gefeierten Girlband Blackpink und dem Pop-Titanen Elton John weitere Gaststars. Das kann man als umsichtige Absicherung ins jüngere wie auch ins gesetztere Publikum verstehen.

Die schwergängigeren Momente, die sich auf früheren Alben gerne mal in einem operettenhaften Meat-Loaf-Bombast manifestierten, sind allerdings dankenswert gering auf "Chromatica". Dazu gehört leider das mit Loveparade-Hüpftechno und Drum’n’Bass-Getrommel überfrachtete Duett mit Elton John ("Sine From Above") und das etwas zu dreist in Madonnas "Vogue"-Parade reingrätschende Schlussstück "Babylon".

"I Will Survive" für die #MeToo-Generation

Höhepunkte des Albums sind die Emanzipations-Hymne "Free Woman", in der Gaga sich von dominanten und dominierenden Männern befreit: I’m not nothing without a steady hand (…) I’m still something I don’t got a man", sowie das sich zur Selbstermächtigung aufschunkelnde "Fun Tonight", in dem es darum geht, einfach aufzustehen und zu gehen, wenn die Stimmung in Bar oder Club übergriffig zu werden droht – ein "I Will Survive" für die #MeToo-Generation.

Nur selten wird der Groove durch kantige Gaga-Reime wie "Enigma/Stigma" ("Enigma") gestört. Ansonsten dominiert ein zusammen mit Produzent BloodPop entworfener Soundtrack, der den Neunziger-House von Armand Van Helden und Crystal Waters mit zeitgenössischem Elektronik-Sounds und -Beats vermengt. In den Texten wird die starke Bühnen- und Kunst-Persona Lady Gaga ("Plastic Doll") immer wieder mit dem von ihr oft als "Monster" bezeichneten Schmerz der realen Stefanie Germanotta konfrontiert ("Sour Candy", "Replay").

Beide verschmelzen im Disco-Safespace "Chromatica" unter erlösenden Beats ekstatisch zuckend zu einer vorläufig friedlichen Koexistenz. Die Tränen, der ganze heulende Regensturm des Lebens wird in "Rain On Me" durch den puren Schweiß der physischen Resilienz ersetzt: I’d rather be dry, but at least I’m alive", singt Gaga.

Holt den Kronleuchter von der Wohnzimmerdecke, hängt die Discokugel auf und tanzt, tanzt, tanzt!

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