Vom Freund wochenlang gequält

Die unvorstellbaren Leiden der Kölnerin Shirin. M

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Zu einem Zeitpunkt, als Shirin M. schon nicht mehr auf Hilfe von außen hoffen konnte, begannen ihre Tage in der Gefangenschaft mit den immer gleichen entsetzlichen Fragen. Womit er denn heute beginnen solle, fragte ihr Freund Murat S. (alle Namen geändert) sie nach dem Aufwachen. Solle er sie zuerst mit dem Messer ritzen? Oder sie vielleicht verbrennen? Oder doch erst einmal mit dem Tennisschläger misshandeln?

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Shirins Körper war längst von schweren Schnitt- und Brandwunden gekennzeichnet. Damit sie für andere Männer auf ewig unattraktiv bleibe, sollte sie sich den Schriftzug „Ich hasse mich“ ins Bein tätowieren. In den vier Wochen ihres Martyriums in der elterlichen Wohnung des damals 24 Jahre alten Mannes in Köln-Mülheim durfte sie nach Angaben der Staatsanwaltschaft nur fünfmal auf die Toilette gehen. Sie musste auf einem Laken am Boden neben dem Bett von Murat S. schlafen, durfte das Zimmer selten und die Wohnung nie verlassen. Polizisten sicherten das uringetränkte Laken später als Beweismittel.

Shirin M. dachte nur noch ans Überleben

Habe Shirin M. anfangs noch Widerstand gegen die Folter und die Vergewaltigungen durch ihren Partner geleistet, sei sie schon bald weder körperlich noch psychisch mehr in der Lage gewesen, sich zu wehren. Ihr einziger Gedanke sei gewesen zu überleben.

Shirin M. ist eines von mehr als tausend Verbrechensopfern, die Marianne Weich (74) in mehr als 30 Jahren als ehrenamtliche Mitarbeiterin beim Weißen Ring in Köln betreut hat. In all der Zeit sei ihr kein Fall stärker unter die Haut gegangen als der von Shirin M., sagt Weich im Interview für die Serie „Verbrechen – auf der Spur der Täter“ im „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Warum hat niemand Murat S. gestoppt?

Wer im Einzelnen nachliest, was die Kölner Staatsanwaltschaft Murat M. damals im Gerichtsprozess zum Vorwurf machte, dem dreht sich der Magen um. Viele Details sind derart grausam, dass sie hier nicht einmal angedeutet werden sollen. Kaum vorstellbar, dass eine Person diese Qualen einen Monat lang überlebt. Ebenso schwer zu greifen ist, dass niemand Murat S. stoppte. Seine Eltern nicht, die in derselben Wohnung lebten. Nachbarn nicht, die die verzweifelten Schreie von Shirin M. hörten, wie sie später vor Gericht bekundeten. Aber auch die Familie der damals 26-Jährigen nicht. Zwar machten sich die Angehörigen große Sorgen, so wurde es später im Prozess deutlich, drohten Murat S. auch einmal, die Polizei einzuschalten, wenn er nicht verrate, wo Shirin stecke, taten es aber letztendlich nicht.

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Marianne Weich hat schon mehr als tausend Opfern von Straftaten geholfen und sie beraten.Foto: Max Grönert

Es war schließlich an Shirin, sich eines frühen Morgens im Mai 2005 in Todesangst aus der Wohnung zu stehlen, nachdem Murat S. eingeschlafen war, erschöpft von einer weiteren Folterorgie. Blutüberströmt und fast nackt rannte sie auf die Straße und bat Passanten und Angestellte einer Bäckerei um Hilfe. Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) nahm Murat S. fest, Shirin M. wurde in ein Krankenhaus eingeliefert – unter falschem Namen, um sie vor möglichen Rächern aus dem Umfeld ihres Ex-Freundes zu schützen. „So lernte ich sie damals kennen“, sagt Marianne Weich heute. „Als Frau Reuter“. Vor ihrem ersten Besuch in der Klinik hätten die Ermittler der Polizei sie vor dem Anblick der 26-Jährigen gewarnt. Sie habe Unfassbares durchlitten, sie sehe „verheerend“ aus.

Murat S. war arbeitslos, die Zeit verbrachte er mit seinem Auto und Schlafen

Kennen gelernt hatte Shirin M. Murat S. in einem Café auf den Kölner Ringen. Sie kellnerte, er jobbte hin und wieder als Türsteher. Im Sommer 2004 war das. Drei Monate später zog sie zu ihm und seinen Eltern nach Mülheim. Anfangs lief die Beziehung harmonisch. Sie wurde schwanger von ihm, trieb das Kind aber ab. Murat S. war arbeitslos, seine Eltern finanzierten ihm den Lebensunterhalt und sein Auto. Überwiegend habe er seine Zeit mit Shirin M., mit seinem teuren Auto und mit Schlafen verbracht, stellte die Staatsanwaltschaft später fest.

Irgendwann begannen die ersten Streits, S. wurde zunehmend aggressiv. Schließlich, im Frühjahr 2005, schloss er die 26-Jährige über vier Wochen in der Wohnung ein und misshandelte sie nahezu täglich. Nach seiner Festnahme verhängte ein Richter Untersuchungshaft. Kurz vor Weihnachten jedoch setzte das Oberlandesgericht den Haftbefehl außer Vollzug mit dem Argument, die Staatsanwaltschaft habe sich mit ihren Ermittlungen zu viel Zeit gelassen.

Zu den ersten drei Verhandlungstagen vor dem Kölner Landgericht im Frühjahr 2007 erschien Murat S. noch als Angeklagter. Am vierten dann nicht mehr. Er hatte sich abgesetzt, vermutlich in die Türkei. In seiner Abwesenheit verurteilten die Richter den nicht vorbestraften Türken wegen mehrfacher Vergewaltigung, Körperverletzung, Bedrohung, Nötigung und Geiselnahme zu elf Jahren und drei Monaten Gefängnis.

Murat S. ist bis heute verschollen

Bis heute ist Murat S. verschollen. Seine Eltern, so erinnert sich Opferbetreuerin Marianne Weich, hätten seinerzeit erklärt, ihr Sohn habe sich in der Türkei das Leben genommen. Doch stimmt das? Mit letzter Gewissheit nachprüfen ließ sich das nie.

Shirin M. lebt heute nicht mehr in Köln. Sie hat mehrere wochenlange Klinikaufenthalte hinter sich und jahrelange Psychotherapien. Sie ist arbeitsunfähig und bezieht eine lebenslange Opferrente vom Staat. Die Bewilligung solcher Renten durch die Behörden sei oft kompliziert und langwierig, nicht selten werden die Zahlungen abgelehnt, sagt Marianne Weich. Im Falle von Shirin M. sei der Antrag ohne Zögern und in Windeseile genehmigt worden.