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Ein entscheidender Fehlschuss: Bastian Schweinsteiger (rechts) scheitert im Champions-League-Finale an Chelsea-Torwart Petr Cech. © AFP
Vor 50 Jahren erfunden

Dramen vom Punkt: Jubiläum für das Elfmeterschießen

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Heute vor genau 50 Jahren erfand Schiedsrichter Karl Wald das Elfmeterschießen und damit den Nervenkitzel nach dem Spiel.

Ein Hoch auf Karl Wald selig, den 2011 verstorbenen Bundesliga-Linien-, aber vor allem Amateurschiedsrichter, denn er hat’s erfunden: das Elfmeterschießen. Weil zuweilen ein Spiel, in einem Pokalwettbewerb, bei einem Turnier oder bei Auf- und Abstieg ja entschieden werden musste und der traditionelle Münzwurf maximal ungerecht war. Darum hat Wald, der Rebell, heimlich Experimente durchgeführt, mit eingeweihten Amateurmannschaften. Fünf gegen fünf Schützen, das Nervenspiel nach dem Fußballspiel. Diesen Samstag, an dem normalerweise das Champions League-Finale (inklusive eines möglichen Elfmeterschießens) angepfiffen worden wäre, sind es 50 Jahre, dass der Bayerische Fußball-Verband (BFV) das Format absegnete, das letztlich Weltkarriere machte und dem Sport große Dramen bescherte.

Uli Hoeneß ist dafür ein schönes Beispiel eines Leidtragenden. Seine Biografie hat einige Brüche erlebt – zu frühes Ende der Spielerlaufbahn wegen eines Knieschadens, ein Flugzeugabsturz, Steueraffäre und Haftstrafe –, doch zur Sprache kommt immer auch wieder, und zwar bis heute, sein Fehlschuss 1976 im Europameisterschaftsfinale in Belgrad gegen die Tschechoslowakei. Hoeneß jagte im Elfmeterschießen den Ball weit über die Latte, in die Nacht über Belgrad; es gibt kein Fernsehbild, auf dem man sehen könnte, ob der Ball irgendwo gelandet wäre.

Ohnehin war dies ein legendäres Elfmeterschießen – schon weil es das erste war, das ein großes Turnier entschied. Bei der WM 1974 hätte es zwei Tage nach dem Finale im Falle eines Remis nach Verlängerung ein Wiederholungsspiel gegeben, die Karten waren schon gedruckt. Beim deutschen EM-Gegner 1976 setzte ein Spieler ebenfalls Maßstäbe und wurde und blieb daher berühmt in der positiven Version (wenn Hoeneß die negative war): Antonin Panenka. So wie Elemente im Turnen nach den Athleten benannt werden, die sie erfunden und als erste vorgeführt haben, so wurde „Panenka“ zum Synonym für eine besonders freche Elfmetertechnik. Bei ihr nutzt der Schütze aus, dass der Torhüter spekuliert und sich in eine Ecke wirft. Antonin Panenka ging richtigerweise davon auch bei Sepp Maier aus, der zwar im Spiel ein grandioser Torwart war, aber kein Elfmeterkiller. Panenka lief an, holte stattlich aus, doch daraus wurde kein mächtiger Schuss, sondern ein sanfter Lupfer in die Mitte des Tores.

Demütigung für den Keeper, Coolness-Lobpreisung für den Schützen – wenn’s so ausgeht. Andersherum: Tormann bleibt einfach stehen, und der Schütze war ein verantwortungsloser Selbstdarsteller, der sich an seiner Mannschaft versündigt hat. Es geht ja immer um alles, wenn Elfmeterschießen ist. Die Spieler, auch die nicht nominierten, versammeln sich an der Mittellinie, legen die Arme umeinander. In diesen Momenten sind sie wirklich Freunde – oder zumindest Verbündete.

In den 50 Jahren seit der Einführung des Elfmeterschießens hat es für jeden Fußball-Liebhaber eines für die Unvergänglichkeit gegeben. Sind Engländer dabei, wusste man bis zum Achtelfinale der WM 2018, wie es ausgeht: England verliert. Doch dann gewann England endlich ein Elfmeterschießen, gegen Kolumbien – Geschichte! England vergeigte Elfmeterschießen sonst bei jedem Anlass, gegen Deutschland in den Halbfinals 1990 (WM) und 96 (EM).

Die Deutschen hingegen waren immer stabil. Oder sie hatten die besten Infos. Wie die über die Elfer-Vorlieben der argentinischen Stars, die Torwarttrainer Andy Köpke auf einem Notizzettel aus dem Berliner Schlosshotel Grunewald schrieb und Jens Lehmann übergab, der ihn als Spickhilfe fürs WM-Viertelfinale 2006 in den Stutzen schob. Lehmann war selbst aber auch fleißig gewesen und hatte sich bei dem niederländischen Spielerberater Maikel Stevens Infos aus dessen privater Datenbank besorgt. Acht Jahre und mehrere Technikrevolutionen später griff man in der Nationalmannschaft bereits auf eine App aus dem Hause SAP zurück. Die wusste alles.

Trainer sagen oft, Elfmeterschießen sei eine Lotterie. Das ist falsch. Denn man kann aus elf Metern so schießen, dass der Torwart ihn nicht kriegt. Die Universität Graz hat das mal errechnet. Ein Ball, der mit 100 km/h getreten wird, braucht vom Elfmeterpunkt bis zum Tor 0,4 Sekunden. Kein Torhüter hat eine kürzere Reaktionszeit als eine Zehntelsekunde. Bleiben ihm also maximal 0,3 Sekunden, in denen er seine Erkenntnisse verarbeiten und seinen Muskeln Befehle erteilen kann, was zu tun ist. Sein Körperschwerpunkt liegt in einem Meter Höhe. Er wird 0,45 Sekunden brauchen, um in Bewegung zu kommen – zu spät. Flach neben den Pfosten geschossen ist Gift für den Goalie, für den halbhohen Schuss dankt er.

Wer hat mehr zu verlieren? Ja, ein Psychospielchen ist es, das Elfmeterschießen. Auffällige Statistik: In 60 Prozent gewinnt die Mannschaft, die als erste schießt. Daher gibt es Überlegungen, alle zwei Durchgänge zu wechseln.

Unbestritten ist: Der Torwart kann unbeschwerter in die Veranstaltung gehen, jeder gehaltene Elfmeter ist eine Bonusleistung. Der Schütze riskiert mehr. Ein Fehlschuss ist immer eine Blamage, die nachhängt. Bastian Schweinsteiger war traumatisiert, nachdem er im Champions-League-Endspiel 2012 in München gegen den FC Chelsea den Ball an den Pfosten geschoben hatte. Oder nehmen wir den Italiener Zaza 2016 gegen Deutschland (EM-Viertelfinale). Er agierte wie ein Zirkuspferd: 23 Schritte Anlauf, ein Tanz, der ihn selbst durcheinanderbrachte. Fehlschuss. Helden sind – weit mehr noch als die Feldspieler, die treffen – die Torhüter, die halten. Letzte Berühmtheit in dieser Reihe: Daniel Batz vom viertklassigen FC Saarbrücken: Wehrte im Pokal-Viertelfinale Anfang März gegen Düsseldorf vier Elfer ab.

Eine tolle Erfindung, dieses Elfmeterschießen, nicht mal die Amis mit ihren Innovationen haben es wegbekommen. Sie ließen, als die US-Profiliga in den 70ern alle gealterten Weltstars holte, Penaltys schießen. Wie im Eishockey. Alleingänge aufs Tor. Es passte nicht zum Fußball.

Karl Wald, der Erfinder des Elfmeterschießens, wurde aber nicht nur gefeiert. Je nachdem, wie es ausgegangen war und wessen Mannschaft verloren hatte – stets gab es auch Leute, die bei ihm in Penzberg anriefen, um ihn zu beschimpfen. Der Enkel von Karl Wald hat dem Opa dann einen Anrufbeantworter eingerichtet – und den überwanden die aufgeladensten Angreifer nicht.