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(Bild: Universal, krone.at-Grafik)
Album „Chromatica“

Lady Gaga: Wo Licht, da auch viel Schatten

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Sieben Jahre nach ihrem letzten richtigen Pop-Album „ARTPOP“ kehrt die Genre-Königin Lady Gaga mit dem Corona-bedingt verschobenen „Chromatica“ wieder zurück. Ein Album voll bunter Farben und knalliger Beats, aber auch voller Schmerz und Schwermut. Die 34-Jährige verpackt negative Erfahrungen und mentale Probleme in schrille 80er-Rhythmen. 

2020. Ein Jahr des Verzichts, der Entbehrungen und der Veränderungen. Ein Jahr, das die ganze Welt langfristig in vielerlei Hinsicht komplett verändern wird. Ein Jahr, in dem es auch mal guttut, wenn man sich in die Musik fallen lassen und sie einfach genießen kann. Als ob Pop-Queen Lady Gaga die Zeichen der Zeit schon vor der Corona-Pandemie erkannt hätte, liefert sie auf ihrem sechsten Album „Chromatica“ genau diese spielerische Leichtfüßigkeit, die wir gerade alle brauchen und nach der wir alle dürsten. Dabei ist die klangliche Ungezwungenheit nur eine oberflächliche, denn darunter verstecken sich bierernste Themen, die Frau Germanotta teilweise seit ihrer Kindheit begleiten. Es sind ehrliche und offene Abhandlungen über die vielen negativen Seiten des Lebens, die man auch - oder manchmal gerade wegen - der unbändigen Berühmtheit und das ständig hell erstrahlende Rampenlicht erdulden muss.

Disco-Fassade
Wenn man unter die gelackte Disco-Oberfläche schaut, ist es eine Tour de Force, auf die uns die 34-Jährige mitnimmt. Schwere Depressionen und eine Vielzahl an Medikamenten begleiteten Lady Gaga während des Songwriting- und Aufnahmeprozess zu „Chromatica“. Nicht unbedingt die besten Voraussetzungen, um ein eigentlich unbeschwertes und fröhliches Album aufzunehmen. Die Tiefen hinter den Beats erschlossen sich schon im Februar, lange vor dem viel zitierten Social Distancing, auf der ersten Single „Stupid Love“. Der unwiderstehliche Disco-Song klingt nach außen hin zwar nach Madonna-80ern und hätte so ähnlich auch auf dem ebenso famosen neuen Album von Dua Lipa stehen können, hinter der Fassade verarbeitet die Künstlerin aber persönliche Traumata in intensiven Textzeilen wie „gotta quit this cryin‘, nobody’s gonna heal me if I don’t open the door“. Schweres Leid, versteckt unter tonnenweise funkigem Make-Up.

„911“ etwa spielt direkt auf ihre antipsychotischen Medikamente an, „Fun Tonight“ zielt auf den Widerspruch zwischen ihrer öffentlichen Kraft und der persönlichen, intimen Traurigkeit ab. Ein Schlüsselsong ist „Rain On Me“, das sich mit jedem neuen Durchlauf stärker präsentierende Duett mit Pop-Sternchen und Freundin Ariana Grande. Grande teilt viele der mentalen Probleme mit Lady Gaga und ist daher weit mehr als nur eine Name-Dropping-Songpartnerin für Germanotta. Die Botschaft ist so einfach wie klar: es ist okay, zu trauern und zu weinen. Es ist okay, sich schwach und verletzlich zu zeigen und dabei klar Stellung zu beziehen. Und vor allem: geteilter Schmerz ist vielleicht nicht halber Schmerz, aber leichter zu verarbeitender Schmerz. Dass die Single übrigens am dritten Jahrestag des Manchester-Terroranschlags beim Ariana-Grande-Konzert veröffentlicht wurde, bei der 22 Menschen ihr Leben verloren, kann kaum Zufall gewesen sein.

Späte Highlights
Hinter dem dichten Berg an Synthie-Teppichen, Roboter-Beats und opulent ausstaffierten Pop-Hymnen befinden sich unzählige subtile Hinweise auf die Fragilität Gaga’s Daseins und ihren prekären mentalen Gesundheitszustand. Fast in jedem der vor Power pumpenden Songs baut sie Geschichten aus ihrem schlangenlinienförmigen Leben ein und gewährt ihren Fans dadurch mehr Zugang zu ihrem Innersten als je zuvor. Die Songs weisen allesamt hohe Qualität auf und zeigen sich auch auf der zweiten Albumhälfte stark. Besonders die Kooperation mit der K-Popband Blackpink in „Sour Candy“ und das eher getragene, aber von wuchtigen Drums und einem hitparadentauglichen Rhythmus vorpeitschende „Enigma“ sind mitunter die stärksten Stücke, die Gaga im Pop-Korsett seit langem exerziert. Eher unbefriedigend fällt dafür die mit vielen Vorschusslorbeeren ausgestattete Elton John-Kollaboration „Sine From Above“ aus - da war der Wunsch nach etwas Epischem größer als die tatsächliche Umsetzung.

„Chromatica“ steht sinnbildlich für Gagas imaginierten Planeten, auf dem sie sich mental befindet und all ihre Wünsche, Farben und Klänge so vermischen und umsetzen kann, wie sie es gerne möchte. Der futuristische Überbau ist nicht zuletzt auch durch die Videos und das an Cyper-Punk-Chic angelehnte Cover-Artwork erkennbar. In gewisser Weise katapultiert sich Gaga nach einer jahrelangen Phase des Experimentierens und Probierens wieder in ihren eigenen Nukleus des Fantastischen. Das Jazz-Album mit Legende Tony Bennett, die Country-inspirierte Platte „Joanne“ und der brillante Film „A Star Is Born“ zeigten Lady Gaga in den letzten Jahren mannigfaltig und variabel, aber sieben Jahre nach dem letzten wirklichen Pop-Album „ARTPOP“ war es wieder Zeit, sich den Fesseln des Ausuferns zu entledigen und in den wohlig-warmen Stall des Bekannten und Geübten zurückzukehren. Karrieretechnisch könnte man wohl sagen: zwei Schritte zurück, um einen großen nach vorne zu machen.

Hit-Album ohne Top-Hits
Obwohl „Chromatica“ ein wirklich gutes, kurzweiliges und eingängiges Pop-Album im besten 80s-Style ist, fehlt es der Platte doch an den richtigen großen Hits wie „Paparazzi“, „Bad Romance“ oder „Born This Way“, mit denen sich Gaga verdient in den Genre-Olymp katapultiert hat. Dennoch gelingt ihr ein mehr als würdiges Pop-Comeback, das sich weder vor der Nostalgie, noch vor der Gegenwart fürchtet und mit der sie im Prinzip sich und ihre eigene Verletzlichkeit dafür opfert, dass ihre „Little Monsters“ einen freudvollen und fröhlichen Eskapismus aus der harschen Gegenwart ziehen können. Wo Licht, da auch viel Schatten. Wünschen wir uns mit dem Album eine schöne Zeit und der Künstlerin, dass sie viele ihrer negativen Erfahrungen selbst wegtanzen kann.