Immer neue Kredite gegen die Krise: Verschuldung durch Corona explodiert: Top-Ökonomen streiten, ob das überhaupt schlimm ist
by FOCUS OnlineNach Jahren der schwarzen Null bereiten die Corona-Rekordschulden vielen Sorge. Dabei kann sich in Deutschlands Schuldenquote im Vergleich zu denen anderer Staaten durchaus sehen lassen. Die Frage ist bloß: Wer ist am Ende der Dumme?
Bis zum Jahresbeginn lief sie rückwärts, jetzt tickt die Staatsschuldenuhr des Steuerzahlerbundes wieder in die andere Richtung – und zwar im Eiltempo: Deutschland wird wegen der Corona-Pandemie so viele Kredite aufnehmen wie noch nie in einem Jahr.
Damit ist die Bundesrepublik nicht allein. Weltweit sollte die Staatsverschuldung laut einer Schätzung der Ratingagentur S&P in diesem Jahr auf 53 Billionen US-Dollar steigen – und damit um fünf Prozent innerhalb eines Jahres. Das Bizarre: Der massive Trend zum Schuldenmachen hat mit der Krise gar nichts zu tun. Die Schätzung erfolgte nämlich noch vor Corona. Jetzt kommen also noch jede Menge weiterer Schulden hinzu.
Wie soll der Staat das Geld jemals zurückzahlen?
Der Internationale Währungsfonds (IWF) beziffert die Rettungspakete weltweit auf 7,8 Billionen US-Dollar. Für die Eurozone geht der IWF inzwischen von einem Schuldenzuwachs von 13 Prozent aus. Allein Deutschland hat bereits 156 Milliarden Euro an Hilfen bewilligt. Zusätzlich soll ein milliardenschweres Konjunkturprogramm der Wirtschaft wieder auf die Beine helfen.
Dass die Hilfen dringend nötig sind, bestreitet niemand. Doch immer mehr drängt sich nun die Frage auf, wie viele Schulden sich Deutschland eigentlich leisten kann: Wie soll der Staat das Geld jemals zurückzahlen? Oder muss er das vielleicht gar nicht?
Zwei Philosophien: Bei Staatsschulden scheiden sich die Geister
Fakt ist: Im internationalen Vergleich gelten wir als finanzpolitische Streber. Vor der Corona-Krise hatte der Bund erstmals wieder die Maastricht-Kriterien für die in der EU erlaubte Staatsverschuldung eingehalten. Die Haushalte waren solide, sechs Jahre in Folge stand die schwarze Null. Dann kam die Pandemie – und nun legt die Bundesrepublik ein Hilfsprogramm nach dem anderen auf. Nicht nur für die deutsche Wirtschaft, sondern im Rahmen seiner EU-Verpflichtungen auch für andere Staaten, etwa für das notorisch klamme Italien.
Nicht alle sind davon begeistert. In der EU tobt längst ein heftiger Streit um die richtige Herangehensweise im Kampf gegen die Krise. Dahinter steckt allerdings mehr als nur ein temporäres Problem. Vielmehr geht es um zwei völlig unterschiedliche Philosophien, was Staatsschulden betrifft. Der Streit spielt sich nicht nur in der Politik ab – auch Experten tun sich mit gegensätzlichen Meinungen hervor. Deutschland und Italien sind dabei so etwas wie die beiden Extrembeispiele aus der Realität, die Vertreter der gegenteiligen Lager gerne für ihre Argumentationen bemühen.
Deutschland steht selbst mit Corona-Schulden äußerst solide da
Klar ist: Die Schuldenbremse ist für 2020 ausgesetzt - und plötzlich strömt das Geld aus den Staatskassen: Deutschland stellt schon jetzt so hohe Summen zur Krisenbewältigung bereit wie sonst kein anderes Land der Erde – jedenfalls im Vergleich zu seiner Wirtschaftsleistung. Das hat der IWF ebenfalls errechnet.
Die Konsequenz der Freigebigkeit ist, dass die Schuldenquote Deutschlands, also die Verschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung, allein in diesem Jahr von unter 60 auf 75 Prozent steigen wird. Das ist jedenfalls die Zahl, mit der Finanzminister Olaf Scholz (SPD) rechnet. Verglichen mit anderen Staaten steht die Bundesrepublik allerdings selbst dann noch äußerst solide da:
- Für Frankreich schießt die Schuldenquote laut IWF wohl auf mehr als 115 Prozent,
- Italien muss bald mit 155 Prozent rechnen,
- die USA mit 131 und
- Japan mit satten 252 Prozent.
Könnte sich Deutschland noch viel mehr Schulden leisten?
All dies sind keine Ausnahmen: In den Industriestaaten weltweit steigt die Verschuldung derzeit wie sonst nur in Kriegszeiten. Wo soll das aber hinführen? Und könnte sich Deutschland dann nicht, statt sich Sorgen zu machen, möglicherweise sogar noch viel mehr Kredite erlauben, als diejenigen meinen, die jetzt schon mosern?
Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sieht die Schmerzgrenze „dort, wo es nicht mehr möglich wäre, innerhalb einer Generation ohne größere Kraftanstrengung wieder unter 60 Prozent zu kommen“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnt: Maximal 100 Milliarden weitere Schulden dürften drin sein, um den Staat nicht zu ruinieren.
Das Heft in der Hand hat aber Vizekanzler Scholz: Er orientiert sich vage am Zeitraum, den es zur Lösung des Problems brauchen würde: 20 Jahre hat er dem Bund eingeräumt, um die Schulden aus der Corona-Krise zurückzuzahlen.
„Mr. Dax“ warnt Anleger: „Im Herbst kommt das große Zähneklappern“
Experten: Staat braucht seine Schulden nie zurückzahlen
Aus Sicht mancher Ökonomen ist das viel zu ambitioniert. Sie sagen sogar: Ein Staat braucht seine Schulden nie mehr zurückzahlen. Als Vordenker dieser Schule gilt Oliver Blanchard, seines Zeichens ehemaliger Chefökonom des IWF. Er meint: Solange ein Ende der Niedrigzinsen nicht absehbar ist, müssen Staaten auf ihre Schulden so gut wie keine Zinsen mehr zahlen. Wenn aber gleichzeitig die Wirtschaft wächst, sinkt der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftskraft automatisch.
Als Blanchard 2017 seine These öffentlich formulierte, sorgte er damit bei seinen Kollegen zwar noch für Aufsehen – und auch darüber hinaus. Heute ist sie fast schon Standard. Steuerexperte Martin Beznoska vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln etwa wiederholt dieses Argument in der Frage, wie Deutschland mit den Schulden umgehen soll, die durch die Coronahilfen entstehen: Bei steigender Wirtschaftsleistung werde der Staat mit der Zeit einfach aus seinen Schulden rauswachsen. Deshalb reiche es völlig aus, bald wieder die schwarze Null einzuhalten. „Ein fester Zeitplan zur Tilgung ist eigentlich nicht nötig“, betont Beznoska.
Gefahr droht, wenn Zinsen plötzlich doch wieder steigen
„Der Staat muss Schulden in den meisten Fällen nie zurückzahlen“, sagt auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. „Uns Menschen gibt die Bank irgendwann keinen Kredit mehr, weil wir ihn nach dem Tod nicht mehr zurückzahlen können“, erklärt der renommierte Ökonom. Doch anders als ein Mensch lebe ein Staat ewig.
Deshalb müsse das Loch aus Sicht der Wissenschaftler auch nicht über Vermögensabgaben, Steuererhöhungen oder Kürzungen von Sozialausgaben gestopft werden, wie manche jetzt fordern. Derzeit zahlt der Bund im Jahr laut Fratzscher rund 14 Milliarden Euro an Zinsen. „Das sind 0,3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung oder 3,5 Prozent der Steuereinnahmen – ein sehr geringer Anteil“, meint er.
Anderer Ex-Chefökonom des IWF ist Schulden-Gegner
Die Ökonomen plädieren zwar nicht für unbegrenzte Schulden – sie sehen aber deutlich mehr Spielraum für noch mehr Investitionen. Wichtig sei lediglich, dass der Bund die Zinsen aus seinen Steuereinnahmen bedienen könne, sagt Beznoska. „So lange der Staat am Kapitalmarkt weiter zu vernünftigen Zinsen Geld bekommt, ist es kein Problem, Schulden zu haben.“ Einzig bei steigenden Zinsen „könnte es unter Umständen Sinn machen, auch wieder Schulden abzubauen“.
Damit spricht Beznoska das Argument an, das Kritiker wie Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff schon damals dem Lager von Blanchard entgegenwarfen: Niemand kann garantieren, dass die Zinsen nicht doch wieder steigen - und dann ginge die Rechnung der Schulden-Befürworter nicht mehr auf, so Rogoff, der ebenfalls dem IWF als Chefökonom diente. Deshalb sei langfristig ein Abbau der Staatsschulden notwendig, damit Volkswirtschaften wieder an Dynamik gewinnen und auch eventuelle Krisen überstehen können.
Deutschland sollte Italien schon vor der Corona-Krise helfen
Zudem gilt: Es muss immer jemanden geben, der einem Schuldner sein Geld leiht. Diese Gläubiger verlangen einen umso höheren Preis für ihr Geld, je weniger sie an die Fähigkeiten eines Staates glauben, das Geld zurückzuzahlen. Italien weiß, was das konkret heißt: Die Zinsen, die Rom zahlen muss, wenn es neue Anleihen verkauft, sind deutlich höher als die, die etwa Deutschland zahlen muss. Mitunter können Staaten, die gut dastehen, sogar Minuszinsen verlangen. Mit anderen Worten: Sie verdienen Geld, wenn sie Schulden machen.
Um die Verhältnisse anzugleichen, sollte Deutschland Italien unter die Arme greifen - bereits vor der Corona-Krise. Nun flammen die Diskussionen um eine Schuldenunion auf europäischer Ebene umso stärker wieder auf. Dabei ist es egal, auf welche Lösung man sich am Ende einigt: Die Frage nach den Zinsen, die Staaten wie Italien zahlen müssen, um Gläubiger für sich zu gewinnen, ist und bleibt das zentrale Problem. Und es ließe sich nur lösen, wenn stärkere Staaten ihnen einen Teil der Last abnehmen.
Geht das Vertrauen verloren, kann es schnell kritisch werden
Mit dem Blick aufs BIP und das allgemeine Zinsniveau ist es jedenfalls nicht getan. Vielmehr müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden – etwa das Vermögen, das ein Staat seinen Schulden entgegensetzen kann. Japan zum Beispiel könne seine hohe Schuldenquote nur deshalb einigermaßen schultern, weil es nicht nur über eine große Wirtschaftskraft, sondern auch über hohe Vermögen verfüge, erklärt Beznoska. Mit anderen Worten: Japan hat ein mächtiges Pfand in der Hand und kann damit seine Gläubiger trotz gigantischer Schuldenlast beruhigen. Argentinien hingegen, das im Vergleich zur Wirtschaftsleistung nur in etwa so hoch verschuldet ist wie Deutschland, sei quasi pleite, so Beznoska weiter.
Neben den harten wirtschaftlichen Fakten gibt es weitere wichtige Faktoren, etwa das Vertrauen in die Fähigkeiten des Personals. „Wie viele Schulden man sich erlauben kann, hängt stark von der Glaubwürdigkeit der Regierung ab“, sagt Fratzscher. Letztlich geht es aus Sicht der Ökonomen um eine entscheidende Frage: Wann denken die Anleger, der Staat habe ein Problem. Sobald der Finanzmarkt – also Investoren und Sparer – das Vertrauen verliere, könne es schnell kritisch werden, warnt Beznoska.
Wette auf die Zukunft – bei hohem Einsatz
Beide Ökonomen sind sich einig: Von so einer Situation ist Deutschland noch sehr, sehr weit entfernt. Langfristig werde das aber nur so bleiben, wenn der Staat sein Geld in die richtigen Dinge investiere. „Wenn der Staat sein Geld in Bildung steckt, für Innovation und eine leistungsfähige Verkehrs- und digitale Infrastruktur ausgibt, generieren diese Ausgaben viel zusätzliches Wachstum“, sagt Fratzscher.
Der Gedanke dabei: Je besser es gelingt, die Konjunktur nach der Corona-Krise nachhaltig anzukurbeln, desto mehr Schulden kann man sich leisten – weil das Geld in ein paar Jahren zigfach wieder reinkommt. Dies ist und bleibt jedoch immer auch eine Wette auf die Zukunft. Und der Einsatz ist hoch. Denn letztendlich hängt vom Wohlergehen der Wirtschaft unter anderem das Wohlergehen der Sozialsysteme ab.
„Als wir die Spanische Grippe hatten, hat der Staat das auch gemacht“
Einer, der in Deutschland vor einer ungezügelten Verschuldung warnt, ist der frühere Präsident des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn. Seine Bedenken zielen allerdings darauf ab, dass ein erheblicher Teil der Summen, die die Staaten ausgeben, quasi aus dem Nichts geschaffen werde, ohne Gegenwert – dafür mit fatalen Folgen.
Im Morning Podcast von Gabor Steingart sagte Sinn: „Das Geld macht einen kleinen Umweg über die Märkte, über die Staatspapiere, aber kommt dann eben aus der Druckerpresse und gelangt von dort in die Taschen der Bürger, die kompensiert werden für Lohneinkommen, das sie nicht mehr haben – Stichwort Kurzarbeitergeld – und es geht an Firmen, die kompensiert werden für Erlöse, die sie nicht mehr haben.“
Diese Expansion der Zentralbankgeldmenge, sagt Sinn, könnte sich schließlich in einer großflächigen Geldentwertung entladen: „Das erinnert mich sehr stark an die Finanzierung nach dem Ersten Weltkrieg und auch im Ersten Weltkrieg, wo die Staatsausgaben für den Krieg aus der Druckerpresse finanziert wurden, nicht über die Märkte. Und auch in der Nachkriegszeit, als wir zufälligerweise damals die Spanische Grippe hatten, hat der Staat das gemacht. Mit der Folge, dass dann eine Hyperinflation zustande kam.“
„Zinswende nicht zu bedenken, ist so naiv wie fahrlässig“
Im Bundestag sieht man eine allzu sorglose Haltung gegenüber neuen Schulden deshalb auch kritisch. Aus Sicht des FDP-Haushälters Otto Fricke spielen die Ökonomen mit dem Feuer. Der Grundsatz „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ dürfe nicht nur in der Krise gelten, sondern müsse auch danach befolgt werden, betont er. Die Verschuldung müsse deshalb wieder sinken. „Denn von dauerhaft niedrigen Zinsen auszugehen, ohne die Möglichkeit einer künftigen Zinswende auch nur zu bedenken, ist so naiv wie fahrlässig.“
Auslandsreisen, Kontaktsperren, Familienbonus: Das ändert sich für Sie im Juni 2020
„Mr. Dax“ warnt Anleger: „Im Herbst kommt das große Zähneklappern“
„Staatsverschuldung“ abonnieren