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Bild: rbb
Unfreiwilliger Corona-Stopp

Orchester aus Bolivien sitzt seit 80 Tagen in Rheinsberg fest

Video: rbb|24/Camilo Toledo | 29.05.2020

Die Idylle von Rheinsberg ist für 25 junge Musiker aus Bolivien zu einem eher bedrückenden Ort geworden: Seit 80 Tagen hängen sie hier wegen Corona fest. Während sie sich nach Hause sehnen, machen sie das, was sie am besten können: Improvisieren. Von Jenny Barke

Für ungeübte Ohren mag es etwas schief klingen - doch für die andinen Klänge hat Andrea Álvarez lange geübt. Mit voller Lungenkraft pustet die Bolivianerin in ihre Pinquillada, eine Holzflöte aus zwei Rohren, die mit über anderthalb Metern Länge fast größer als die Frau selbst ist. Die Musik ist ihr Ventil gegen das Heimweh.

Andrea ist eine von 25 indigenen Experimental-Musikern zwischen 17 und 34 Jahren. Seit knapp drei Monaten harren sie gemeinsam in der Musikakademie in Rheinsberg (Ostprignitz-Ruppin) aus. Der See glitzert im frühsommerlichen Sonnenschein, der Rasen ist gestutzt, nebenan prahlt das Schloss mit seinem Rokoko. Die pittoreske Idylle übermalt die düstere Stimmung unter den Bolivianern. Denn ganz freiwillig bestaunen sie die Kulisse nicht.

Zum Nachhören
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rbb/Jenny Barke

Bolivianische Musiker sitzen seit 80 Tagen in Rheinsberg fest

Panflöten ohne Straßenmusik-Kitsch

Eigentlich wollte das bolivianische Orchester "Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos" (OEIN) - zu Deutsch: Experimental-Orchester der nativen Instrumente - hier nur einige Tage proben. Zwei Jahre hatten sich die Musiker auf ihren großen Tag vorbereitet. Gemeinsam mit dem deutschen Ensemble Phønix16 wollten sie beim Maerz-Musik-Festival der Berliner Festspiele das Eröffnungskonzert spielen.

Dabei verbinden sie experimentelle Stücke der Neuen Musik mit ihren präkolumbianischen Instrumenten: Percussions aus Kürbissen, Rohre aus Bambus, Schnabel- und doppelreihige Panflöten. Es sind jahrhundertealte Techniken des Volkes der Aymara, die mit den spanischen Kolonialisten an Bedeutung verloren. Die Kompositionen sollten ein Brückenschlag sein, zwischen Anden und Brandenburg.

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Bild: rbb/Jenny Barke

Abgesagt, geschlossen, gestrichen

Doch dann kommt Corona. Das Festival: abgesagt. Boliviens Grenzen: geschlossen. Flüge: gestrichen. Die Musiker haben Angst um ihre Familien und wollen nach Hause. "Es waren sehr bedrückende Monate", sagt Andrea. "Die Corona-Regeln wurden immer strenger. Keiner hat mit uns kommuniziert. Wir wussten nicht, ob wir zurückkehren können, zu welchen Bedingungen es ginge, mit welchen Flügen und wie wir das finanzieren sollen." Nun findet der Brückenschlag fast ohne Publikum statt.

Um die jungen Musiker moralisch und organisatorisch zu unterstützen, haben einige aus dem Phønix16-Team mit ihnen zusammen in Quarantäne gelebt. Unter ihnen der künstlerische Leiter Timo Kreuser. "Das gebietet schon die Gastfreundschaft, dass man nicht einfach wegrennt, wenn es brennt." Denn für die gestrandeten Bolivianer fühle sich keiner verantwortlich, kritisiert Kreuser.

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Timo Kreuser, künstlerischer Leiter Phønix16Bild: rbb/Jenny Barke

"Was wollen die denn? Die leben in einem Schloss!"

In Bolivien herrscht seit vergangenem Herbst eine nicht gewählte, vom Militär unterstützte Regierung. An deren Spitze steht Jeanine Àñez, die schon vor einigen Jahren mit der Aussage Furore machte, dass sie von einem Bolivien träume "frei von teuflischen Riten", denn La Paz, Regierungssitz Boliviens, sei nicht für Indios. "Sollen sie abhauen ins Hochland!"

Und so scheint es nicht verwunderlich, dass die bolivianische Regierung auf den Hilferuf der jungen Musiker lapidar antwortete: "Was wollen die denn? Die leben doch in einem Schloss." Dabei hat ihre Quarantäne mit einem Prinzessinnenleben wenig gemein. Eindringlich werden Journalisten gebeten, nicht von "Schloss-Quarantäne" zu sprechen, denn die Musiker leben nicht im Schloss und wollen kein Bild von Reichtum suggerieren. Beide Orchester seien nach diesen Monaten pleite, heißt es. Die bolivianische Interimsregierung fordert die Musiker auf, Rückflug und Corona-Tests selbst zu zahlen.

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Bild: imago images / Jürgen Ritter

"So polemisch äußert sich nicht einmal Trump"

Noch dazu kommt nach der Rückkehr ein obligatorischer Quarantäne-Aufenthalt in einem Hotel - dass einem Regierungsmitglied gehört. Umgerechnet kommen pro Person Kosten in Höhe von etwa einem Jahresgehalt auf. Alle OEIN-Mitglieder spielen ehrenamtlich in dem Orchester. Für Timo Kreuser ist das Verhalten Boliviens ein eindeutiger Beweis für eine parteipolitische Motivation. "So polemisch äußert sich nicht einmal Trump. Das ist gegen die Menschenrechte."

Einige Bolivianer hätten Angstattacken gehabt, seien in depressive Stimmung verfallen. Um ihnen Struktur in der schweren Zeit zu geben, stellte Timos Team mit ihnen Pläne für Workshops und Proben auf. Zusätzlich wurden alle Möglichkeiten eruiert, um doch noch ein Flugzeug zu chartern. Einmal hätten sie es fast geschafft.

Es gibt neue Hoffnung

An Tag elf der Quarantäne waren sie schon mit dem Bus auf dem Weg zum Flughafen Frankfurt am Main - auf der Autobahn kam die Absage. Die Tage danach seien eine Katastrophe gewesen, viele hätten geweint, seien psychisch am Ende gewesen, sagt Timo Kreuser. Die vergangenen 80 Tage habe sein deutsches Ensemble rund 80 Stunden pro Woche gearbeitet.

Doch nun gibt es neue Hoffnung: Für Montag (1. Juni) haben sie einen Flug bekommen. Der Optimismus in der Gruppe ist verhalten. "Ich habe große Angst, dass wir uns noch anstecken. Beim Flughafenpersonal oder im Flieger, oder dass einer der Corona-Tests positiv ist, den wir gemacht haben. Dann könnten wir auch nicht fliegen", sagt Andrea.

Südamerika gilt als neues Corona-Epizentrum

Der Plan ist auch deshalb wackelig, weil seit dieser Woche Südamerika als neues Epizentrum der Corona-Pandemie gilt. Brasilien ist mittlerweile weltweit das Land mit der zweithöchsten Zahl an Covid-19-Fällen nach den USA. Auch in Chile und Peru steigen die Infektionszahlen rasant. Mit den Katastrophen der einzelnen Länder steigt das Risiko, dass Bolivien doch noch im letzten Moment die Landung verbietet. So wohl sie sich alle miteinander gefühlt haben, keiner will, dass ihr musikalisches, unfreiwilliges Home-Office noch länger als die jetzt erwartbaren 84 Tage dauert.