Quelle: WELT

Amerikas Bürokratie steht am Rande des Kollaps

In der Corona-Epidemie verloren womöglich bereits 60 Millionen US-Bürger ihre Jobs. Die Ämter sind vollkommen überfordert. Arbeitslose hängen in Telefonwarteschleifen fest – und Beamte nutzen Jahrzehnte alte PC-Programme

Als das Virus nach New York kam, begann für die Kellner des „Ruffian“ der Kampf gegen die Bürokratie. Vor zehn Wochen musste Moshe Schulman seine kleine Weinbar im Süden Manhattans schließen. Wie alle Wirte durfte er nur noch Take-Out anbieten. Schulmans ehemalige Angestellte meldeten sich am 16. März arbeitslos – aber vier von ihnen haben bis heute keinen Cent Hilfe erhalten. „Die New Yorker Behörden“, sagt Schulman zu WELT, „sind mit der Lage vollkommen überfordert.“

Die Kellner des „Ruffian“ zählen zu den 40 Millionen Amerikanern, die in der Corona-Epidemie bisher ihre Jobs verloren haben. Damit steigt die Arbeitslosenquote auf mehr als 15 Prozent. Ausgangssperren und Firmenschließungen brachten das öffentliche Leben über Wochen nahezu zum Erliegen. Das Tempo, mit dem die Wirtschaft kollabiert, ist in der US-Geschichte ohne Beispiel. Das Land, in dem mittlerweile mehr als 100.000 Menschen an Covid-19 gestorben sind, erlebt einen Zusammenbruch im Zeitraffer.

Bis der Börsencrash von 1929 zu einer Arbeitslosigkeit von 15 Prozent führte, vergingen zwei Jahre. Und nach der Pleite der Bank Lehman Brothers im September 2008 wurde dieser Wert nie erreicht. Während der Finanzkrise stieg die Quote auf zehn Prozent – und zwar im Oktober 2009, also rund ein Jahr später. Das Coronavirus benötigte nur wenige Wochen, um eine ähnliche Zerstörung anzurichten.

Und die aktuellen Daten zeigen noch nicht einmal die ganze Katastrophe. Denn es ist, wie der New Yorker Wirt Schulman sagt: Amerikas Behörden sind überfordert. Sie kommen mit der Bearbeitung der Anträge nicht hinterher. Ihnen fehlt Personal und moderne Technik.

Manche Beamte arbeiten mit Jahrzehnte alten PC-Programmen, tippen weiße Buchstaben auf schwarzen Hintergrund. Die Webseiten der Arbeitsämter fallen immer wieder über Stunden aus. Man hört von Menschen, die seit Wochen versuchen, im Internet Anträge auszufüllen – und nichts als Fehlermeldungen erhalten. Andere verbringen den halben Tag in Telefonwarteschleifen, nur um an jemanden zu gelangen, der sich noch nicht mit den neuen staatlichen Hilfen auskennt.

Das bedeutet: Viele Arbeitslose sind bisher nicht in der Statistik erfasst. Wer keinen Antrag einreichen kann, weil die Ämter überlastet sind, bleibt unsichtbar. Auf zehn Amerikaner, die im März und April alle Formulare erfolgreich ausfüllten, kommen drei bis vier, die es versuchten und scheiterten. Zwei weitere probierten es erst gar nicht, weil ihnen der Aufwand zu groß erschien. Das zeigt eine Untersuchung des Washingtoner Economic Policy Institute, die WELT vorliegt.

Liegt die echte Arbeitslosenzahl bei 60 Millionen?

„Die Ergebnisse legen nahe“, schreiben die Autoren Ben Zipperer und Elise Gould, „dass die offiziellen Daten das Ausmaß der Arbeitslosigkeit drastisch unterbewerten.“ Stimmt die Rechnung der beiden Ökonomen, dann verloren seit dem Ausbruch des Virus nicht 40 Millionen Amerikaner ihre Jobs – sondern mehr als 60 Millionen. Und selbst diese Zahl könnte noch untertrieben sein. Denn die acht Millionen Menschen, die ohne Papiere in den USA arbeiten, in Restaurantküchen, in Hotels, auf Baustellen, tauchen in der Statistik ebenfalls nicht auf.

Es ergibt sich ein erschütterndes Bild: Die Bürokratie der reichsten Nation der Erde bricht in der Corona-Epidemie fast zusammen. Zuletzt boomte Amerikas Wirtschaft, die Arbeitsämter hatten wenig zu tun. Aber viele nutzten diese Zeit wohl nicht, um sich für die Krisen von morgen zu wappnen. Andere rechneten nicht mit einem Drama solchen Ausmaßes. „Wir haben uns auf etwas wie die Rezession von 2008 vorbereitet“, heißt es zum Beispiel aus dem Arbeitsministerium des Bundesstaates Illinois, „aber das genügte offenbar nicht.“

Die Millionen Amerikaner, die nun entlassen wurden, zahlen den Preis dafür. In New York entspannt sich die Lage nun zwar etwas. Die Arbeitsämter stellten Tausende Aushilfen ein, um Anrufe zu beantworten. Zudem setzten sie mithilfe von Google ihre Webseiten neu auf. Aber anderswo sieht es noch immer schlimm aus.

13 Bundesstaaten haben das Corona-Hilfsprogramm, das Präsident Donald Trump Ende März unterschrieb, bisher nur lückenhaft umgesetzt. Drei haben noch nicht einmal damit begonnen. Oft ist veraltete Technik schuld. Kansas und New Jersey zum Beispiel nutzen noch Großrechner, die mit COBOL laufen – eine Programmiersprache aus dem Jahr 1959. Als sich plötzlich viele Bürger zur selben Zeit arbeitslos meldeten, crashten die Systeme. Und die Behörden mussten lange nach Informatikern suchen, die COBOL noch beherrschen und alles wieder zum Laufen bringen konnten.

Bis Amerikas Wirtschaft wieder läuft, könnte es hingegen noch dauern. Viele Arbeitslose geben zwar an, nur vorübergehend entlassen worden zu sein. Und mehrere Bundesstaaten versuchen, zur Normalität zurückzukehren. In Texas zum Beispiel sind Lokale, Kinos und Friseure wieder offen, obwohl die Zahl der Infektionen noch immer hoch ist. Trotzdem glauben Ökonomen nicht an eine schnelle Erholung. Frühestens in zwei Jahren, sagt die Budgetbehörde des US-Kongresses voraus, wird Amerikas Ökonomie wieder ähnlich stark sein wie vor Corona.

Für Trump ist das ein Problem. Wie kaum ein anderer Präsident knüpfte er sein Schicksal an die Wirtschaft. Trump rühmte sich für die geringe Arbeitslosigkeit, die vor der Epidemie in den USA herrschte. Nun muss er erleben, wie sie in historische Höhen klettert. Und das ausgerechnet im Jahr der Wahl. Der Präsident wird im November – voraussichtlich – gegen den Demokraten Joe Biden antreten. In vielen Bundesstaaten liegt Trump in den Umfragen zurück. Sinkt die Arbeitslosigkeit nicht bald, wenden sich wohl noch mehr Wähler ab.