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Sabine Bendiek: „Normalität muss sich eben auch entwickeln“

Die Microsoft-Deutschlandchefin Sabine Bendiek und der Soziologe Hartmut Rosa über gemischte Realitäten, virtuelle Begegnungen und eine Regnose auf das Jahr 2020.

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Sabine Bendiek

„Die größte Veränderung war es, mit Kund*innen ebenfalls nur noch virtuell Kontakt zu haben.“

Düsseldorf. Auch im Virtuellen kann man sich verlaufen: Sabine Bendiek landet immer wieder im falschen virtuellen Konferenzraum. Die Kamera von Hartmut Rosa hat ihn umgekippt, der Soziologe liegt quer im Bild (was ja irgendwie auch seine Aufgabe ist). Interviews in Zeiten von Corona: Alle brauchen etwas mehr Geduld, Verständnis und Humor, um mit der neuen „mixed reality“ umzugehen. Genau darum soll es gehen.

Frau Bendiek, was hat sich in Zeiten der Kontaktverbote an Ihrem Alltag verändert?
Sabine Bendiek (SB): An meinem persönlichen Alltag hat sich gar nicht so viel verändert, weil wir intern schon lange virtuell zusammenarbeiten. Die größte Veränderung war es, mit Kund*innen ebenfalls nur noch virtuell Kontakt zu haben. Aber das Bedürfnis, sich einfach mal auf einen Kaffee zu treffen, wird spürbar größer.

Herr Rosa, wie empfinden Sie den Sozialentzug?
Hartmut Rosa (HR): Ich habe vor allem einen steifen Nacken, weil ich den ganzen Tag vor dem Laptop sitze und in eine kleine Kamera schaue. Mit Studierenden nur noch virtuell zu kommunizieren empfinde ich durchaus als Verlust.

Hat sich die Rolle von Technologie in Ihrem Leben in den vergangenen Wochen verändert?
HR: Definitiv. Natürlich habe ich früher auch schon mal Skype genutzt, aber eher zum Telefonieren. Nun habe ich erstmals Vorlesungen auf Video aufgenommen.

Frau Bendiek, Sie stehen für ein Unternehmen, das uns allen in diesen Tagen eine wichtige Arbeits- und Kommunikationsplattform bietet. Was verraten Ihre Kennzahlen?
SB: Die Nutzung digitaler Tools ist explodiert. Unsere Kommunikationsplattform Microsoft Teams hat inzwischen mehr als 75 Millionen Nutzer*innen, die Zahlen steigen täglich, die Arbeit hat sich komplett ins Virtuelle verlagert. In Deutschland herrschte bei dem Thema traditionell Skepsis, weil viele Führungskräfte daran zweifeln, ob die Angestellten im Homeoffice wirklich konzentriert arbeiten. Unsere Zahlen sagen: Das tun sie.

Wie lässt sich denn anhand der Nutzungszahlen die Konzentration messen?
SB: Natürlich kennen wir nicht die Inhalte der Gespräche. Aber wir sehen, dass immer mehr gemeinsam an Dokumenten gearbeitet wird und die Instant-Messaging-Funktionen genutzt werden. Ich würde also mal davon ausgehen, dass die Menschen im Homeoffice nicht einfach ihre Zeit verplempern.

Herr Rosa, manche sagen, sie hätten über digitale Kanäle aktuell viel mehr Kontakt mit ihren Mitmenschen als früher. Leben wir womöglich in einer neuen Ära der physischen Distanzierung, aber auch der sozialen Vertiefung in der virtuellen Welt?
HR: Zumindest setzt sich nun eine Entwicklung fort, die wir schon seit einigen Jahren beobachten. Die Größe der virtuellen Freundeskreise bei Facebook oder Instagram nimmt zu, dort herrscht viel Austausch und eine hohe Kommunikationsdichte. Gleichzeitig sagen viele Statistiken, dass die soziale Isolation zunimmt. Handelt es sich also um Vertiefung oder Verdichtung? Ändert sich die Qualität der Kontakte in den sozialen Medien? Die Antwort steht noch aus.

Ist das ein Beispiel dafür, dass man gemischte Realitäten neu aushandeln muss und sowohl im analogen wie virtuellen Leben gleichzeitig Einsamkeit und Vertiefung erleben kann?
HR: Ja, wobei beides eigentlich nicht gleichzeitig funktioniert. Der französische Philosoph Paul Virilio hat das schon in den Neunzigerjahren als „rasenden Stillstand“ bezeichnet. In der Coronakrise ist die Welt physisch stillgestellt, gleichzeitig rasen die Datenströme. Aktuell haben wir da noch keine glückliche Kombination gefunden zwischen digitaler Beschleunigung und sozialer Isolation.

SB: Ich finde schon, dass die Menschen im Zuge der Coronakrise mit der Verlagerung ins Homeoffice mehr von sich persönlich preisgeben. Früher haben sie überwiegend telefoniert, heute treffen sie sich in Videokonferenzen. Dahinter steckt vermutlich der Versuch, in Gesichter zu sehen und zu interagieren. Aber ich habe dadurch zum Beispiel viele Kund*innenwohnungen kennengelernt, inklusive Kindern und Haustieren, die ich früher nicht gesehen hätte.

HR: Da würde ich gerne doppelt widersprechen. Erstens erlebe ich in den Videokonferenzen eine massive Inszenierung. Ich habe wegen meines Berufs überwiegend mit Wissenschaftler*innen zu tun. Und ich kann Ihnen sagen: Die sitzen in Videokonferenzen immer vor einer Bücherwand – ich mache das genauso. Aber dadurch ändert sich mein Wirklichkeitsbezug. Ich bin nicht so, wie ich bin, sondern wie ich gesehen werden will. Das sagen mir auch viele Jugendliche: Die realweltliche Erfahrung wird durch den digitalen Blick kolonialisiert. Viele besuchen Museen nicht wegen der Ausstellungsstücke, sondern weil sie dort tolle Selfies machen können. Und zweitens – ohne wie ein kulturkonservativer alter weißer Mann klingen zu wollen: Ich empfinde Gespräche meist als intensiver und intimer, wenn ich nur die Stimme am Ohr höre und nicht das Gesicht auf dem Monitor sehe. Ich kann mich dann besser auf das Gegenüber einlassen, vielleicht auch weil ich mich nicht ständig selber sehe und über mein eigenes Aussehen nachdenke.

SB: Ich würde eher sagen, dass wir auch ein Bedürfnis nach Nähe verspüren, die wir nicht rein virtuell erschaffen können. Technologie braucht eben eine menschliche Komponente. Natürlich werden auch nach der Coronakrise Gespräche über Video Geschäftsreisen ersetzen, weil sich mehr Menschen mit digitaler Interaktion angefreundet haben. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir mit der digitalen Transformation durch sind.

Herr Rosa, Sie plädieren seit Langem dafür, dass wir mehr Resonanzerfahrungen gegen die Steigerungslogik der Moderne brauchen. Sind diese zwischenmenschlichen Erfahrungen auch in der virtuellen Welt möglich oder müssen wir womöglich neu denken?
HR: Physische Anwesenheit in einem Raum schafft noch lange keine Nähe. Entscheidend für die Intensivierung sozialer Kontakte sind geteilte Emotionen und geteilte Aufmerksamkeit. Andererseits hat Co-Präsenz auch mikrointeraktionale Momente. Zum Beispiel im Hörsaal: Da muss sich nur eine Person zurücklehnen, ein paar Minuten später sitzen alle gelangweilt da. Diese Mikrointeraktionen werden bei Skype und Co. gewissermaßen stillgestellt. Entscheidend ist für mich aber etwas anderes: Wir sind der Steigerungslogik der Moderne unterworfen, daran ändert auch die Verlagerung ins Digitale nichts.

Frau Bendiek, in der westlichen Welt herrscht die Maßgabe vor, dass Wirtschaft ohne Wachstum unvorstellbar ist. Sehen Sie diese Maßgabe durch Corona herausgefordert?
SB: Natürlich werden gewisse Aspekte aktuell hinterfragt, etwa wie eine globale Lieferkette gestaltet werden sollte. Allerdings stehen wir als Volkswirtschaft auch weiterhin in einem globalen Ideen- und Effizienzwettbewerb. Diese Logik des Wettbewerbs wird bestehen bleiben. Wollen wir als Export- und Wissensnation weiter erfolgreich sein, müssen wir damit umgehen und unsere digitalen Fähigkeiten intensiver vorantreiben.

HR: Ich bin da skeptischer. Natürlich verstehe ich Ihre Argumente. Aber das Ziel scheint immer Erfolg im Wettbewerb zu sein, also Absatz und Profit zu steigern. Aber ist das wirklich das Ziel der Moderne, den ganzen Tag effizient vor einem Rechner zu Hause zu sitzen? Wo bleibt da die Lebensqualität? Wann gelingt menschliches Leben? Unser Ziel kann doch nicht ausschließlich auf Effizienz und Wettbewerb ausgerichtet sein. Die aktuelle Disjunktion zwischen physischer und digitaler Welt ist eine gute Gelegenheit, um darüber noch mal nachzudenken.

SB: Jetzt verkürzen Sie aber arg. Wirtschaftlicher Erfolg und Wohlstand in der richtigen Balance trägt zu Lebensqualität bei. Für mich ist das Wort Wettbewerb daher durchaus positiv belegt. Für mich geht es dabei nicht darum, dass immer einer verliert, weil ein anderer gewinnt, sondern darum, mit Ideen zu punkten, Kreativität zu fördern und Menschen Erfolgserlebnisse zu ermöglichen.

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Es gibt mittlerweile menschliche Rituale wie Taufen, Geburtstage und Tanzpartys über Videokonferenz. Kann das gemeinsame Zusammensein durch Technologie verbessert werden?
SB: Das wird in Teilen ja schon eingesetzt, egal, ob im Falle von Roboterchirurgie oder virtuellen Konferenzen mit Hologrammen. Auch hier wird Covid-19 dazu beitragen, dass sich virtuelle Interaktion nicht mehr so merkwürdig anfühlt. Normalität muss sich eben auch entwickeln.

HR: Ich stimme zu, dass Technologie hilft, Dinge zu erreichen – ich nenne es parametrische Optimierung. Die Technik macht immer mehr Parameter unserer Lebensführung sichtbar – wie gut ich schlafe, wie gesund ich mich ernähre oder wie gut meine Leistung im Beruf ist. Wir versuchen also ständig, die Parameter zu optimieren. Dadurch wird allerdings das Leben nicht notwendigerweise besser. Ich beobachte derzeit mit Sorge eine Zunahme gesellschaftlicher Aggression – gegenüber der Natur, weil wir sie zerstören; in der Politik, weil der Hass gegenüber Andersdenkenden zunimmt; und eine Art Autoaggression, die zu Burn-out führt. Technik hilft uns, dieses Aggressionsverhältnis ständig zu optimieren. Aber entspricht das der Idealgesellschaft, wenn sich Menschen nicht mehr körperlich bewegen müssen, weder zu Geschäftsterminen noch zu Taufen?

SB: Mein Ideal ist das sicher nicht. Außerdem würde ich widersprechen, dass Technologie ausschließlich ein Mittel der Selbstoptimierung ist. Es gibt inzwischen Sensoren, die Blinden bei der Orientierung helfen oder Armbänder, die Parkinson-Patient*innen das Schreiben per Hand ermöglichen. Alles Beispiele dafür, dass Technologie Gutes bewirken kann. Unsere Herausforderung liegt darin, die richtigen Dinge anzugehen. Womit wir bei der zentralen Rolle des Menschen wären: Wir entscheiden, wofür wir Technologie einsetzen wollen.

Frau Bendiek, aktuell läuft eine intensive Debatte über Tracing-Apps zur Bekämpfung des Coronavirus. Wie bewerten Sie die Abwägung zwischen Gesundheit und Privatsphäre?
SB: Grundsätzlich kann Technologie sicher helfen. Die Gesundheitsämter müssen beispielsweise besser ausgestattet werden, damit sie Infektionsketten überhaupt nachvollziehen und unterbrechen können – und dafür werden wir Technik brauchen. Deshalb benötigen wir auch eine Tracing-App. Gleichzeitig dürfen wir jedoch unsere Standards im Hinblick auf Privatsphäre und Datenschutz nicht komplett vernachlässigen und müssen dafür sorgen, dass die Daten nicht in den falschen Händen landen. Dafür müssen wir die verschiedenen Konzepte genau auf diese Fragen überprüfen: Wo wird anonymisiert, was genau verstehen wir als kritische Daten und wie schützt man sie?

HR: Ich bin wirklich kein Technikfeind. Doch bei allen Innovationen glauben Menschen immer, dass sie souverän über die Nutzung neuer Instrumente entscheiden können. Letztendlich machen die Geräte aber eben doch immer was mit uns, in gewisser Weise beherrschen sie uns mindestens genauso wie wir sie. Souverän über den Einsatz einer Technologie entscheiden zu können ist eine Illusion.

Zum Abschluss die Bitte um eine Regnose. Wenn Sie sich die Welt im Jahr 2030 vorstellen, wie blicken Sie auf die heutige Krise zurück?
HR: Im Rückblick werden wir feststellen, dass wir in einem beneidenswerten Zeitalter gelebt haben und alles hatten, was wir brauchten – technische Möglichkeiten, ökonomischen Wohlstand, politische Freiheit. Wir können Welt und Leben gestalten. Die größte verpasste Chance wäre die Unfähigkeit, ökologische Krisen und ökonomische Ungleichheiten zu lösen. Covid-19 zeigt uns, dass wir gar nicht so ohnmächtig sind und durchaus etwas tun können.

SB: Meine größte Angst ist, dass wir nicht mehr zu internationaler Zusammenarbeit zurückkehren – wobei uns die Coronakrise ja gerade verdeutlicht, wie wichtig die ist. Unsere große Chance ist, die unglaublichen Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen, die wir haben. Die Pandemie ist ein Weckruf, den wir hören sollten. Um dabei dann nicht angstbasiert oder risikofokussiert zu handeln, sondern optimistisch und zuversichtlich. Anders gesagt: Zukunft geschieht nicht einfach, die können wir gestalten – auch jenseits von Krisen.

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