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Angehörige der Opfer, hier die Eltern des ermordeten Hamza Kurtović, haben noch zahlreiche offene Fragen.Bild © hessenschau.de
100 Tage nach Anschlag von Hanau

Bohrende Fragen, fehlende Antworten

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Die Bundesanwaltschaft hat bereits einige Details über das Ermittlungsverfahren nach dem Anschlag von Hanau öffentlich gemacht. Vor allem für die Hinterbliebenen der Opfer aber bleiben noch zahlreiche Fragen ungeklärt.

Anschlag in Hanau - Keinen Hinweis auf Mittäter oder Mitwisser00:30 Min. | 29.05.20, 13:00 Uhr | hessenschau

Vom Spannungsverhältnis spricht Bundesanwalt Thomas Beck. Immer wieder. Dem Spannungsverhältnis zwischen dem, was sich die Opfer wünschen und dem, was Aufgabe der Ermittlungsbehörden ist. Staatsanwälte und Polizisten müssen ganz nüchtern Straftaten aufklären. Opfer und deren Angehörige suchten dagegen Antworten auf ihre vielen Fragen.

Beck, Leiter der Abteilung Terrorismus beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe, spricht vor dem Innenausschuss des hessischen Landtags am 14. Mai trotz aller gebotenen Nüchternheit eines Strafverfolgers von einem "in Deutschland beispiellosen, rassistischen Terroranschlag, bei dem innerhalb weniger Minuten eine Frau und acht Männer mit Migrationshintergrund und nur deswegen erschossen wurden". Sieben weitere Menschen sollten "aus demselben Grund" getötet werden. Sie überlebten zum Glück, allerdings zum Teil schwer verletzt.

Das ist viel Emotion für einen Bundesanwalt, zumal die Ermittlungen noch laufen. Bis zu sechs Monate, so Bundesanwalt Beck, könne das Verfahren noch dauern. Wie es ausgehe, sei völlig offen.

Keine Hinweise auf Mittäter oder rechte Strukturen

An diesem 14. Mai sind die Hinterbliebenen der Opfer von Hanau Gäste im Innenausschuss. Sie verfolgen im Medienraum des Landtags die Sitzung. Bundesanwalt Beck spricht sie immer wieder persönlich an, berichtet ihnen, es sei nahezu unvermeidlich, dass in einer ersten hektischen Phase nicht alles reibungslos klappe und "verzweifelte Angehörige mit Unverständnis auf tatsächliche oder vermeintliche Verzögerungen" reagierten. Auch in Wiesbaden ist der Unmut der Hinterbliebenen spürbar. Sie sind nicht zufrieden mit der Arbeit der Strafverfolger, sprechen von Pannen, gar von einem Skandal.

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Erstmals nach zwölf Wochen erhalten die Hinterbliebenen der Opfer vom 19. Februar an diesem Tag Informationen aus dem Ermittlungsverfahren. Das ist ungewöhnlich, weil Staatsanwälte normalerweise keine Details aus laufenden Verfahren ausplaudern. Bundesanwalt Beck aber tut genau das.

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Hanau-Angehörige beklagen Polizeiversagen04:00 Min. | 29.05.20 | Heike Borufka

In nur wenigen Minuten, so Beck, erschoss Tobias R. mit zwei halbautomatischen Pistolen, einer SIG Sauer und einer Ceska CZ 75, die er ganz legal besaß, neun Menschen, sich selbst und seine Mutter. Es liegen keine Hinweise auf Mittäter, Helfer oder Mitwisser vor, wie Beck weiter berichtete. Auch gebe es nichts, was auf die Einbindung in terroristische Strukturen oder Kontakte zu terroristischen Strukturen hindeute.

Der Vater von Tobias R. sei Zeuge. Hinweise darauf, dass er in die Tat eingebunden war, gebe es nicht. An ihm seien keine Schmauchspuren festgestellt worden, wie der Bundesanwalt erläuterte. Auch Indizien, wonach er an den Pamphleten mitgewirkt habe, wurden nicht gefunden.

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Angehörige der Anschlagsopfer von HanauBild © picture-alliance/dpa

Tobias R. war den Behörden bereits aufgefallen

Mehr als 100 Zeugen seien mittlerweile befragt worden, sagt Beck. Die Handys der Opfer wurden geprüft, um Fotos und Videos von der Tat zu sichern und auszuwerten. In den nächsten Wochen und Monaten, werde noch Folgendes weiter geprüft: Wie war der Tathergang? Was hat Tobias R. vor der Tat gemacht? Wie hat er den Anschlag vorbereitet? Was war die Motivation? Und es werden seine Manifeste, die Videobotschaften angeschaut, um die Frage zu klären, wie er sich radikalisiert hat.


hessenschau zu Hanau

Die Ausgabe der hessenschau am Freitag, 29. Mai, 19.30 Uhr, beschäftigt sich monothematisch mit dem rechtsextremen Anschlag in Hanau vom 19. Februar und den Folgen.


Hätte Tobias R. den Ermittlern vorher schon auffallen müssen? War klar, wie gefährlich er war? Auch diese Fragen treiben die Opfer um. Innenminister Peter Beuth (CDU) versucht sie zu beantworten: Gegen Tobias R. wurde 2010 wegen Sozialabgabetrugs ermittelt. Das Verfahren wurde eingestellt. Zehn Jahre zuvor, im Jahr 2000, soll er auf einer privaten Feier aufgefallen sein, weil er einen dunkelhäutigen Gast mit einer Pistole bedroht haben soll. Im Polizeisystem ist dazu laut Beuth nichts mehr zu finden. Vielleicht, weil es wegen der Löschfristen getilgt wurde.

Angehörige kritisieren Informationspolitik

Armin Kurtović ist so etwas wie der Sprecher der rund 30 Angehörigen der Mordopfer geworden. Er kann nicht verstehen, warum er und seine Familie in der Tatnacht stundenlang über das Schicksal ihres Sohnes Hamza im Unklaren gelassen wurden. Zunächst habe es geheißen, dass er schwer verletzt sei und operiert werde. Erst am Morgen des 20. Februar habe die Familie erfahren, dass Hamza Kurtović nicht überlebt hat.

Auch Niculescu Păun hat am 19. Februar seinen Sohn verloren. Vili Viorel Păun wurde in Hanau-Kesselstadt in seinem Auto erschossen. Auf seinem Mobiltelefon, das die Familie unlängst zurückerhalten hat, sind mehrere Anrufe beim Polizeinotruf verzeichnet - alle im Zeitraum des Anschlags. Warum kam Vili Viorel nicht durch? Und warum wurden seine Eltern erst am nächsten Mittag informiert, nachdem sie von sich aus bei der Polizei vorstellig geworden waren?

Auch das Vorgehen der Polizei am Tatabend zieht zumindest in Teilen die Kritik der Angehörigen auf sich. Warum vergingen Stunden, bis Einsatzkräfte das Haus des Attentäters betraten? Warum dauerte es noch eine weitere Stunde, bis der Leichnam von Tobias R. gefunden wurde?

Für die Familien bleiben die Antworten Stückwerk

Einige Fragen lassen sich an diesem 14. Mai im Landtag zumindest ansatzweise klären. Die Polizei habe bei Betreten des Hauses von Tobias R. mit Sprengfallen rechnen müssen, erklärt Landespolizeipräsident Udo Münch. Zu diesem Zeitpunkt habe niemand gewusst, dass Tobias R. tot im Keller liegt. Etage für Etage sei gründlich und vorsichtig durchsucht worden. Der Keller war als letztes dran.

Für die Familien bleiben die Antworten Stückwerk. Die Ermittler haben noch ein anderes Problem. Einen öffentlichen Strafprozess wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geben: Der Täter ist tot, auf Mittäter deutet nichts hin. Das Verfahren wird also eingestellt werden.

"Eine 08/15-Einstellung des Verfahrens" werde es aber nicht geben, verspricht Bundesanwalt Thomas Beck. In irgendeiner geeigneten Form wolle die Bundesanwaltschaft der Öffentlichkeit die Ermittlungsergebnisse präsentieren. Damit auch die Fragen der Angehörigen beantwortet werden können - zumindest einige.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau kompakt, 29.05.2020, 13 Uhr