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In England geboren, in Amerika aufgewachsen, lebt in Rom: Jhumpa Lahiri

Quelle: Marco Delogu

Chronik eines Lebens, das es nie gab

Jhumpa Lahiri ist eine der Lieblingsschriftstellerinnen von Barack Obama. In „Wo ich mich finde“ erzählt sie von einer schillernden Einzelgängerin. Ein Roman wie ein Film von Antonioni.

„Richtungslos, verloren, konfus, durcheinander, orientierungslos, verwirrt, verstört, entwurzelt, nutzlos, verschreckt. In diesen verwandten Begriffen finde ich mich wieder, das ist mein Wohnsitz, er besteht aus den Wörtern, die für mich die Welt bedeuten.“

In „Wo ich mich finde“ erzählt Jhumpa Lahiri von einer Frau, die durch ihr Leben mehr irrt als geht. „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden“, sagt die namenlose Erzählerin, eine Frau, die Mitte vierzig ist und in Italien lebt, an einer Stelle, „es ist eine eigene Disziplin: Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter.“

Warum die Frau lebt, wie sie lebt, weiß man nicht. Vielleicht, weil die letzte Liebe im Desaster endete (der Mann führte ein Doppelleben) und die nächstmögliche keine sein darf (es ist der Mann der besten Freundin). Vielleicht hat es aber eher mit ihr selbst zu tun, keiner Resignation, sondern einer ruhigen Gewissheit den eigenen Erwartungen gegenüber.

Schon früh sei ihr bewusst gewesen, sagt die Frau, dass sie ihre Eltern nicht mit einem normal-konformen Leben würde beruhigen können: „Ich mochte mich selbst nicht, ich wusste damals schon, dass ich allein bleiben würde.“

Und so lebt sie ihr Leben, in dem nach außen hin nicht allzu viel passiert: Sie hat einen Job an der Universität, keine Familie außer der alten Mutter und einem unzuverlässigen Liebhaber. Ihre Tage füllt die Frau mit Gängen durch die Stadt und ihren Routinen, dem Besuch in der Trattoria, alle zwei Wochen am Sonntag die Maniküre.

Eine unschuldige, flüchtige Zuneigung

„Wo ich mich finde“ ist auch eine weibliche Flaneurgeschichte und die Geschichte einer Flucht. Lahiri bringt ihre Protagonistin an Orte – jedes der Kapitel ist mit einer Ortsangabe betitelt –, von denen sie sich wegbewegt.

Ein Strand, den sie findet, weil sie sich von der Feiergesellschaft wegschleicht; eine Bahnhofsbar, die sie hektisch verlässt, weil ihr Zug plötzlich einfährt; ein Dessousgeschäft, in dem sie eben noch mit dem Mann ihrer Freundin stand und den sie manchmal durch Zufall auf der Straße trifft: „Wir erfreuen uns einer unschuldigen, flüchtigen Zuneigung. Sie wird nicht größer werden oder gar überhandnehmen.“

Klingt das alles nicht ein wenig nach Intellektuellenselbstbespiegelungsprosa? Bei Lahiri geht es immer darum: Was hätte sein können, was kommt vielleicht noch – ein Zustand des Daseins im Dauerkonjunktiv.

Vielleicht liegt es am mittleren Alter der Protagonistin, vielleicht daran, dass sie nicht das hat, was viele Gleichaltrige haben: Kinder, Mann, geschmackvoll eingerichtetes Landhaus mit Kamin. Dennoch sind die kurzen, klaren Sequenzen, die das Buch zu einer Art Kurzgeschichten-Roman und Stimmungsbild einer Frau in den Zwischenjahren zwischen Nicht-mehr-wirklich-Jung und Auch-noch-nicht-richtig-Alt machen, kein weiblicher Midlife-Crisis-Bericht.

„Ich selbst war nie verheiratet“, sagt die Frau, „aber ich war, wie viele Frauen, mit einer Reihe von Ehemännern zusammen.“ Dieser lakonisch-ironische Ton, der sich Tatsachen nicht entgegenstellt, sondern ihnen mit Lakonie und Ironie begegnet, durchdringt das ganze Buch, enttäuschte Klagen über das eigene Leben gibt es nicht. Stattdessen beobachtet die Erzählerin alles um sich und macht sich ihre Gedanken über das, was sie wahrnimmt.

Die Erzählerin ist nie getrennt von ihrer Umgebung; sie beobachtet genau und macht sich Gedanken über alles, was sie wahrnimmt. Dadurch hat sie ein so reiches Innenleben.

Sie lebt in Rom, schreibt auf Italienisch

Jhumpa Lahiri, 1967 in London als Kind indischer Eltern geboren und in Amerika aufgewachsen, gilt als die geheime Meisterin unter den amerikanischen Kurzgeschichten-Schriftstellern. 2000 gewann sie für „The Interpreter of Maladies“ (Deutsch: „Melancholie der Ankunft“) den Pulitzer-Preis. In Deutschland ist Lahiri vor allem für „Im Tiefland“ („The Lowland“) bekannt und als Autorin von Kurzgeschichten für den „New Yorker“.

Lahiri lebt seit einigen Jahren in Rom, seit einiger Zeit schreibt sie auf Italienisch. Allein dieser Sprachwechsel ist beeindruckend, und betrachtet man die Prosa genauer, erscheint einem die Darstellung der Suche einer Frau, ihre innere Aufgewühltheit bei gleichzeitiger Ruhe nach außen, ihre Versuche, aus unsichtbaren Engen auszubrechen und tatsächlich für sich zu sein, ganz ähnlich den in den frühen Werken von Elena Ferrante beschriebenen suchenden Frauen.

Stilistisch jedoch ist Lahiri minimalistischer, unterkühlter. Emotionen werden nur kurz aufgeblendet, bevor sie sich wieder ins Innere der Figur zurückziehen.

Jhumpa Lahiri arbeitet viel mit den Blicken der Frau, die alles zu durchdringen scheinen; die Beobachtung ist ihre Art der Handlung. „Wo ich mich finde“ erinnert damit an Antonioni-Filme, die Szenen am Meer könnten auch Monica Vitti mit ihrem kühl-entrückten Blick ins Weite zeigen.

Insofern könnte man das Buch, in Anlehnung an die Erzählungen Michelangelo Antonionis mit dem Titel „Chronik einer Liebe, die es nie gab“ auch „Chronik eines Lebens, das es nie gab“ nennen; Lahiri erzählt neben dem alltäglichen Leben noch von dem Leben, das es eigentlich nie gegeben hat oder wenn, dann eben nur in Gedanken – was auf diese Weise aber eben doch festgehalten und, ja, gelebt wird.

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde. Aus dem Italienischen von Margit Knapp. Rowohlt, 160 S., 20 €.


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