Die Siebziger Jahre in der LiteraturUnorthodoxes und Buntes
Die Zeit nach 1968 war wild, chaotisch und unüberschaubar. Aber sie hinterließ diverse subversive und alternative kulturelle Ausdrucksformen, die erst allmählich näher untersucht werden. Zwei Bücher versammeln nun Erinnerungen von Akteuren der damaligen Subkultur, vor allem aus der alternativen Literaturszene.
by Helmut BöttigerSie hießen "Sprachlos", "Gasolin", "Kaktus", "Gießkanne" oder "Das Nachtcafé". Anfang der 70er Jahre schossen etliche kleine Zeitschriften ins Kraut. Die 68er Revolte nahm jetzt ganz andere Formen an. Literarische Untergrundpostillen erschienen unabhängig voneinander verstreut in der ganzen Bundesrepublik. Hier bildete sich etwas Unorthodoxes, Buntes, Ungeordnetes ab. Für ihren Band "Die untergründigen Jahre" haben Peter Engel und Günther Emig verschiedene Protagonisten der damaligen Subkultur zu Wort kommen lassen. Herausgekommen ist tatsächlich so etwas wie eine "kollektive Autobiografie alternativer Autoren", wie es der Untertitel verheißt, eine Auswahl von Impresarios, Alltagslyrikern, Zeitschriftengründern oder Galeristen, und es ergibt sich ein zuverlässig vielfältiges Bild der Geschehnisse. Dreh- und Angelpunkt für sämtliche Schreiber war damals das "Ulcus Molle-Info" von Josef Wintjes in Bottrop, das ab 1969 über alles informierte, was es an alternativen Such- und Kreisbewegungen überhaupt gab. Helmut Loeven, der Macher des unerschrockenen Magazins "Der Metzger" aus Duisburg, schreibt über jenes Zentralorgan aus Bottrop:
"Josef Wintjes hat dafür gesorgt, dass der Underground über Metropolen und das Universitätsmilieu hinauswuchs und in die Provinz vordrang. Vor allem aber: Sein Angebot war ein Markt der Differenzen. Wenn es überhaupt einen gemeinsamen Nenner gibt, könnte der lauten: ‚Wir kommen von verschiedenen Wegen zu verschiedenen Zielen – und haben doch irgendwie was miteinander zu tun.‘"
Kleben bis in die tiefe Nacht
Helmut Loeven erfuhr durch das Ulcus Molle-Info, dass er mit seiner Zeitschrift "Der Metzger" beileibe kein Solitär war. Es gab viele ähnliche Publikationen in einfacher Machart. Michael Kellner etwa fing in Hamburg 1976 mit einer Zeitschrift namens "Loose Blätter Sammlung" an: 20 Seiten, Auflage 250 Exemplare, Verkaufspreis 1 Mark, und werkelte mit einer Schreibmaschine und einem Bogen Letraset, den von einer englischen Firma vertriebenen Anreibebuchstaben, bei denen man keine Klebstoffflecken zu befürchten brauchte. Heiner Egge, der Gründer der Freiburger Zeitschrift "Das Nachtcafé", gibt einen Tagebuchauszug von damals wieder:
"Bis ein Uhr nachts haben wir geklebt. Alfred, Elmar und ich. Immer wieder Rabsilbers schlechten Composersatz verfluchend, und auch das Fixogum ging zur Neige, aber das Heft ist uns gelungen. Eines der schönsten bisher, mit den gefesselten Schwarz-Weiß-Palmen auf dem Titelbild. Darunter wollen wir eine leuchtend gelbe Schrift: ‚Wildnis der Ohren, Wildnis der Straßen. Nomaden in und außerhalb der Literatur.‘"
Der fröhliche Tarzan
Im "Nachtcafé" erschienen erste Texte der späteren Büchnerpreisträgerin Brigitte Kronauer, und auch sonst brachten die diversen Gazetten unvorhergesehene Höhepunkte hervor. Jürgen Theobaldy gilt mit seinem Gedichtband "Blaue Flecken" 1974 als ein herausragender Mitbegründer der "Neuen Subjektivität". In "Die untergründigen Jahre" erzählt er jetzt, wie er Ende der sechziger Jahre in Heidelberg beim Herumstöbern auf die Zeitschrift "Der fröhliche Tarzan" stieß, herausgegeben von Rolf Eckart John in Köln. Das elektrisierte ihn, und er "nudelte", wie er schreibt, Ende 1971 selbst auf einer Matritze hundert Mal jede Seite einer eigenen Zeitschrift namens "Benzin" durch. Sie begann mit einem Gedicht von Pablo Neruda: "Nicht zu hoch hinaus" – das war sein Programm einer neuen Alltagslyrik abseits politischer und lyrisch-hermetischer Abhebversuche. Er schickte das Heft sofort nach Köln, und bald darauf erschien sein Lyrikband "Sperrsitz" in der eigens dafür von Rolf Eckart John gegründeten "Palmenpresse". Dann passierte etwas, was heute wie ein Bericht aus der Steinzeit anmutet: die im Feuilleton damals einflussreiche und links-subversive "Frankfurter Rundschau" brachte eine Rezension zu "Sperrsitz", und binnen weniger Tage war die erste Auflage mit 400 Exemplaren verkauft. Theobaldy beschreibt prägnant, was Anfang der siebziger Jahre in dieser Literatur von unten für Deutschland wirklich neu war:
"Ich stieß auf die Forderung von Nicolas Born, roh und unartifiziell zu schreiben, ich entdeckte die neuen Anfänge in der Pop Art, in vielem, was aus der Kunst einen Affront machte: keine Reime, weder blumige noch exotische Metaphern, nix metrische Formen, alles unaufwendig, aber sinnlich und geradeheraus."
Auf dem Abenteuerspielplatz
Das von Peter Engel und Günther Emig herausgegebene Buch ist eine Fundgrube. Die Autoren bilden ein breites Spektrum ab: zwischen einer unüberhörbaren Verbitterung darüber, was aus der gesellschaftspolitischen Aufbruchstimmung von damals geworden ist, bis zu entlegenen Abzweigungen hin zur Esoterik. Ronald Glomb beschreibt die anarchische Szene Westberlins, Manfred Bosch und der "maro"-Verleger Benno Käsmayr das libertäre München um die Maistraßenpresse. Auch Barbara Maria Kloos blickt auf bayrische Lockerungsübungen zurück:
"Wir wurden in Ruhe gelassen, die Literatur war ein Abenteuerspielplatz, keine pädagogische, kapitalismusaffine, staatlich subventionierte Kaderschmiede. Es gab im Westen keine Literaturinstitute, wenige Literaturhäuser und kommerzielle Agenturen. Es gab kaum Computer. Wir machten alles selbst, studierten ewig. Crossover. Die Eltern? Weit weg. Heute sitzen sie mit ihren rundum verkabelten Turbo-Karriere-Kids im Hörsaal und korrigieren deren Bachelorarbeiten. Ach ja, wir beherrschten noch Orthographie und Interpunktion, jedenfalls solange wir nüchtern waren."
Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Beitrag von Barbara Maria Kloos gehört zu den lebenszugewandtesten und lustigsten des Buches, aber sie scheut eben nicht davor zurück, offen zu sprechen. Überhaupt wirken die einzelnen Kapitel oft roh, nicht abgeschmirgelt, manchmal auch angreifbar und subjektiv verzerrt – aber im Gesamtbild ergibt sich ein spannendes Panorama dieser Zeit.
Wer will, kann daneben noch zur Ergänzung ein Buch von Ernst Hofacker heranziehen. Es heißt "Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts". Und im Gegensatz zu einigen, die aus der Wahrnehmung von heute über die Popmusik dieser Jahre schreiben, ist dieser Autor ein Zeitgenosse gewesen. Hofacker stellt das Lebensgierige heraus, aber auch das Fragile und Verzweifelte. Nicht nur in der wilden Literaturszene, sondern auch in der Popmusik zeigt sich, dass die 70er Jahre nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Sie sind keineswegs mit dem Terrorismus und dem "deutschen Herbst" gleichzusetzen. Es war nicht ausschließlich die Zeit einer "BRD noir", sondern auch die verschiedenster ekstatischer Augenblicke.
"Zukunft war etwas, auf das man sich ohne Wenn und Aber freuen konnte. Erste Wermutstropfen – etwa in Gestalt der Ölkrise von 1973 und des aufrüttelnden Reports »Die Grenzen des Wachstums«, den der Club of Rome 1972 vorstellte – trübten zwar schon bald die Wachstums-Euphorie, waren aber 1970 noch kaum zu vermuten und sollten ihre Wirkung auf das gesellschaftliche Klima erst allmählich entfalten. Eine nennenswerte Fortschritts- und Wachstums-Skepsis entwickelte sich in den westlichen Ländern jedenfalls erst zum Ende des 70er Jahrzehnts."
"Pop ist ein belesener Mann"
Hofacker ist kein Diskursjongleur, sondern äußert sich eher wie ein Fan. Detailliert widmet er sich den prägenden Musikgruppen, den kalifornischen Singer/Songwritern, dem Glamrock und natürlich dem Punk; es geht um Reggae, Kraftwerk und Pink Floyd. Und wenn er über Iggy Pop schreibt, wird nicht nur dessen genialer Künstler-Nachname effektvoll gebraucht:
"Pop ist ein kluger und belesener Mann. Er würde wohl sofort bestätigen, dass Rock ’n’ Roll seinerzeit nicht das war, als das er heute verstanden wird, nämlich ein Synonym für ritualisierte Entgrenzung in einer durchformatierten und normierten Wohlstandsgesellschaft. Vielmehr war er die lautstarke Notwehr, das »Nein!« einer jungen Generation, die sich nicht länger an die durchgefaulten Moralkodizes ihrer Elterngeneration halten wollte. Sie suchte nach überzeugenden Alternativen und einem freien Leben mit selbstbestimmtem Wertesystem."
Das Rebellische hat sich mittlerweile gelegt. Die Kommerzialisierung, die Funktionalisierung innerhalb der Konsumgesellschaft ist längst ein wesentlicher Bestandteil der Popkultur. Im Vergleich zur Literatur hat ein grundlegender Rollenwechsel stattgefunden: Anfang der 70er Jahre war Popmusik die Sache einer gesellschaftlichen Minderheit, etwas Widerständiges und Subversives. Man musste sich mühsam in den wenigen Fachmagazinen und den ersten Plattenläden informieren, Popmusik bildete noch nicht die Hintergrundbeschallung von Kaufhäusern oder Cafés. Heute setzt die Popkultur die Maßstäbe, und die Literatur ist demgegenüber jetzt zur Sache einer Minderheit geworden, die, wenn sie es ernst meint und sich nicht anpasst, ihrerseits fast schon widerständig und subversiv anmutet. Ob in den siebziger Jahren alles besser war, wird man auch nach Lektüre dieser beiden Bücher nicht unbedingt bejahen. Aber eines steht fest: sie waren auf jeden Fall anders.
Peter Engel/Günther Emig (Hrsg.): "Die untergründigen Jahre.
Die kollektive Autobiographie 'alternativer' Autoren aus den 1970ern und danach"
Verlag Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten.
484 Seiten, 20 Euro.Ernst Hofacker: "Die 70er. Der Sound eines Jahrzehnts"
Reclam Verlag, Ditzingen. 352 Seiten, 28 Euro.