Den gefährlichsten Feind heillos unterschätzt
Die Zahl der politisch motivierten Straftaten durch Rechtsextreme ist gestiegen. Rassismus und Antisemitismus gedeihen in Deutschland auch deshalb so gut, weil die Sicherheitsbehörden auf deren Bekämpfung nicht eingestellt sind.
by Constanze von BullionIn Deutschland wird nach Kräften gehasst, es wird bedroht, bespuckt und verachtet. Immer offener gehen Rechtsextremisten und ihre Unterstützer gegen Menschen vor, denen sie die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft absprechen: Jüdinnen und Juden, Muslime, angeblich Fremde. Auch Amtsträger werden jedes Jahr härter attackiert und mit ihnen das ganze demokratische System. Die Zahlen, die Innenminister Horst Seehofer am Mittwoch zur politisch motivierten Kriminalität im Jahr 2019 vorgetragen hat, sind alarmierend - und eine Quittung für zwei Jahre Extremismusbekämpfung, die ihren gefährlichsten Feind heillos unterschätzt haben.
Um 14 Prozent ist die Zahl politisch motivierter Straftaten im vergangenen Jahr gestiegen. Mehr als die Hälfte der Delikte wurden von Rechtsextremisten verübt. Auch bei Körperverletzungen führen Rechte die Statistik an. Gleichzeitig gehen die Straftaten in Einwandermilieus zurück - also genau in den Bevölkerungsgruppen, vor denen selbsternannte völkische Sittenwächter das Land angeblich retten wollen. Delikte, die in religiösem Hass wurzeln oder in "ausländischer Ideologie", wie es etwas unbeholfen in der Behördensprache heißt, sind jeweils um etwa ein Viertel gesunken.
Nein, diese Zahlen belegen nicht, dass es in Deutschland keine Islamisten mehr gibt, die einen Terroranschlag planen. Und auch die Integration von Geflüchteten ist noch nicht gelungen. Aber die Bedrohungslage hat sich doch gründlich anders entwickelt als von Sicherheitsbehörden vorhergesagt. Es ist da zu einer verheerenden Fehleinschätzung gekommen. Mit der Zurückdrängung des "Islamischen Staates" fehlt vielen muslimischen Gotteskriegern auch in Deutschland offenbar inzwischen die ideologische Unterstützung, zumindest vorerst. Gleichzeitig hat Seehofer jahrelang mit der ganzen Wucht seines Amtes die Gefahr unkontrollierter Migration beschworen. Staatsgegner von rechts haben die Welle genutzt und Netzwerke des Hasses geknüpft. Ermittlern fallen diese oft erst auf, wenn es schon längst zu spät ist. Ob Halle oder Hanau - bei jedem rechtsterroristischen Anschlag der vergangenen Monate hieß es ratlos, man habe den Täter nicht auf dem Schirm gehabt. Kein Wunder. Rassismus und Antisemitismus gedeihen in Deutschland auch deshalb so gut, weil die Sicherheitsbehörden auf deren Bekämpfung über weite Strecken gar nicht eingestimmt wurden.
Inzwischen hat Seehofer die Gangart geändert. Viel Zeit aber bleibt nicht. Denn die Pandemie mit all ihren Implikationen beschleunigt weiter den Rückzug ins Nationale. Grenzen wurden geschlossen, die Asylpolitik liegt brach und mit ihr auch die Unterstützung für die Geschundenen dieser Welt. Wir zuerst - das scheint angesichts der Weltlage inzwischen auch bei vielen Menschen in Deutschland die Haltung zu sein. Diese stille Entsolidarisierung aber, dieses Gefühl, keine Hand frei zu haben für Hilfsbedürftige, begünstigt rechtes Denken.
Wer diesen Trend aufhalten will in Deutschland, kann sich also nicht darauf beschränken, militante Netzwerke von Neonazis härter anzupacken. Der Staat muss auch glaubwürdig all die Tugenden vorleben, die rechtsdrehende Staatsverächter jeden Tag verächtlich machen. Solidarität mit religiösen Minderheiten und Bedrängten ist so eine Tugend. Geht sie verloren, ist die Demokratie es auch.