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"Alte Vorurteile beiseitelegen": Ursula von der Leyen warb am Mittwoch in Brüssel für ihr Corona-Hilfspaket, wegen der Pandemie vor einem weitgehend leeren Europaparlament.
(Foto: KENZO TRIBOUILLARD/AFP)

Attacke auf die sparsamen Vier

Mit ihrem Vorschlag, die Corona-Hilfen der EU noch einmal deutlich aufzustocken, setzt  Ursula von der Leyen auf ein Bündnis mit Merkel und Macron - gegen die Länder, denen die neue Großzügigkeit zu weit geht.

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Die wichtigsten Zahlen in Milliardenhöhe sind längst bekannt, als Ursula von der Leyen um 13.25 Uhr den Plenarsaal des Europaparlaments betritt. Seit einem halben Jahr steht sie nun an der Spitze der EU-Kommission, doch eigentlich beginnt ihre Amtszeit jetzt ein zweites Mal. Corona hat fast alles verändert, von den Prioritäten ihrer Behörde bis hin zu der vielleicht existenziellen Frage, wie solidarisch die 27 EU-Mitglieder künftig miteinander umgehen wollen.

Der holprige Start von der Leyens, die nach der Europawahl vor ziemlich genau einem Jahr recht überraschend ins Amt kam, könnte nun ebenso zur Fußnote werden wie die unkoordinierte und anfangs beschämend egoistische Reaktion der Mitgliedstaaten auf die Pandemie. Ein Scheitern würde wohl weder von der Leyen noch die EU verkraften. Um sieben Prozent wird die Wirtschaftsleistung laut Prognosen abnehmen - ein gewaltiger Einbruch, der eine gewaltige Antwort verlangt.

Von der Leyen nimmt ihren Mundschutz ab. Dann beschwört sie den Mut, den die Gründungsväter und -mütter der EU vor 70 Jahren gezeigt hätten, um "Schmerz, Leid und Zerstörung" zu überwinden. Sie erörtert eine Viertelstunde lang ihren Vorschlag, wie Milliardensummen aus Brüssel Ländern bei der Bewältigung der Corona-Folgen helfen sollen.

Und sie beschönigt nichts an der Lage. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Corona seien überall zu sehen und würden Ungleichheiten gefährlich ausweiten, sagt sie. Es sei legitim, über Souveränität und Lastenteilung zu sprechen. Letztlich gehe es aber um eine klare Wahl: "Entweder gehen wir alle unseren eigenen Weg, lassen Menschen, Regionen und ganze Länder zurück und akzeptieren eine geteilte Union von Reich und Arm; oder wir beschreiten den Weg gemeinsam."

Zum einen legt die Deutsche einen neuen Entwurf für den EU-Haushalt von 2021 bis 2027 vor. Der soll 1,1 Billionen Euro umfassen und orientiert sich damit am Volumen eines Kompromisses, über den die Staats- und Regierungschefs im Februar diskutierten. Zum anderen präsentiert sie ihren Corona-Hilfstopf, die Reaktion auf eine "klar umrissene, unverschuldete, außergewöhnliche Krisensituation". Der Topf ist 750 Milliarden Euro schwer und soll den EU-Etat bis Ende 2024 kräftig aufstocken. Die Mittel werden über EU-Programme vergeben - 500 Milliarden Euro sollen als Zuschuss an Regierungen fließen, 250 Milliarden Euro als günstige Darlehen. Den "sparsamen Vier", jener Koalition der Nettozahler Österreich, Schweden, Dänemark und den Niederlanden, dürfte dies nicht gefallen; sie sehen Zuschüsse sehr kritisch - allerdings ist allen klar, dass das eigentliche Verhandeln nun erst beginnt. Wie viele Projekte der EU-Kommission hat auch der Corona-Hilfstopf einen luftigen Namen bekommen: "Next Generation EU". Um ihn zu füllen, will von der Leyen Schulden aufnehmen, die bis 2058 zurückgezahlt werden müssen. Deshalb ist ihr wichtig, die Hilfen so zu entwerfen, "dass die nächste Generation morgen davon profitiert". Hier schlägt sie die Brücke zu ihrem Kernprojekt, dem "Europäischen Grünen Deal", und wirbt für eine Union, "die klimaneutral, digital und robuster aufgestellt ist als jemals zuvor". Die 61-Jährige nennt das einen "entscheidenden Moment" für ihre eigene Generation. Die müsse die Prioritäten der Jugend beachten. Neben dem Kampf gegen die Erderwärmung gebe es die "klare Vision, Menschenwürde und Rechtsstaat zu fördern". Was die EU-Beamten in den vergangenen Tagen durchgerechnet haben und von der Leyen nun skizziert, wäre undenkbar ohne jenes Papier, das Angela Merkel und Emmanuel Macron Mitte Mai präsentiert hatten. Einen Hilfstopf von 500 Milliarden Euro "als kurze Antwort auf die Krise" schlugen die Kanzlerin und Frankreichs Präsident vor, bei von der Leyen ist die Summe noch um 50 Prozent gewachsen. Das Geld soll vor allem jenen Staaten zugute kommen, deren Wirtschaft am stärksten unter der Pandemie leidet. Allerdings sieht eine interne Aufstellung der Kommission selbst für Deutschland einen Zuschuss von bis zu 29 Milliarden Euro aus dem Hilfstopf vor. Das verblasst aber im Vergleich zu den 77 Milliarden Euro, die für Spanien reserviert sind, oder den 82 Milliarden Euro für Italien. Anders als Deutschland und die übrigen finanzstarken Staaten sollen Länder wie Italien und Spanien zusätzlich von zinsgünstigen Krediten aus dem Corona-Topf profitieren; bei Italien geht es hier um 91 Milliarden Euro, bei Spanien um 63 Milliarden Euro.

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