Schmidt-Chanasit im Interview

"Da werden falsche Ergebnisse hochgeladen"

by
https://apps-cloud.n-tv.de/img/21808066-1590587801000/16-9/750/132257858.jpg
Austausch und Kritik unter Forschern - kein Skandal, sondern eine wichtige Basis für wissenschaftliches Arbeiten.(Foto: picture alliance/dpa)

Die "Bild"-Zeitung schießt gegen den Charité-Virologen Christian Drosten, weil seine aktuelle Studie zur Viruslast bei Kindern von anderen Forschern kritisiert wird. Dabei ist der sogenannte Peer Review-Prozess, die Prüfung eines Ergebnisses durch andere Wissenschaftler, ein üblicher und sinnvoller Vorgang. Die Politik steht unter Druck und muss schnell entscheiden, aber Forschung braucht Zeit. Trotzdem kann es zusammen gehen, sagt der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit im Gespräch mit ntv.de. Die Politik muss aber einiges klüger gestalten.

ntv.de: Die "Bild"-Zeitung hat einen Skandal daraus gemacht, dass Wissenschaftler eine Studie von Christian Drosten kritisieren. Dabei sei Feedback normal und nötig, lernen wir jetzt. Wo tickt die Wissenschaft anders, als Politik und Gesellschaft es erwarten?

https://apps-cloud.n-tv.de/img/21808199-1590590279000/16-9/750/66569463.jpg
Der Virologe Schmidt-Chanasit.(Foto: picture alliance / dpa)

Jonas Schmidt-Chanasit: Zum einen stellen Medien natürlich wissenschaftliche Arbeiten oft verkürzt dar. Ein Artikel berichtet über ein Ergebnis, das die Forschung auf 30 Seiten Manuskript darstellt. Das führt zu Missverständnissen. Zum anderen hat die Politik gerade das Problem, dass sie extrem unter Druck steht, sie muss schnelle Entscheidungen treffen. Druck zu machen, ist aber nicht der Weg der Wissenschaft. Forschung geht über einen längeren Zeitraum, es gibt einen Zuwachs an Wissen, es gibt Austausch darüber, Puzzleteil für Puzzleteil setzt sich über Jahre zusammen. Erst dann erlaubt man sich ein wirklich fundiertes Statement.

Schade. Dann können Politik und Wissenschaft wohl nicht zusammenarbeiten?

Die Wissenschaft kann nur das liefern, was lieferbar ist. Sie darf nicht unter Druck sein, sie darf nicht voreilig unsichere Ergebnisse publizieren. Aber man muss abwägen. In der Tropenmedizin arbeite ich häufig in einem kleinen Zeitfenster. Wir müssen innerhalb von zwei Wochen ein Virus bekämpfen und können nicht warten, bis wir in sechs Monaten ganz genaue Erkenntnisse haben. Dann muss man sich annähern, aber das muss dann auch von der Politik so klar kommuniziert werden. Dann darf man nicht den Anschein erwecken, als gäbe es valide Daten, sondern muss sagen: Die Grundlage ist unsicher, aber wir müssen damit jetzt trotzdem unsere Entscheidung treffen. Und dann versteht das die Bevölkerung auch.

Die Drosten-Studie war ein sogenanntes Preprint, also ein erstes Ergebnis, das noch nicht von anderen Forschern begutachtet und noch nicht bereit zur Veröffentlichung war. Auf dem Server war es trotzdem schon öffentlich. War nicht vorauszusehen, dass das missverstanden wird?

Normalerweise wird ein Ergebnis zunächst in einem "Peer Review" von anderen Forschern begutachtet und erscheint erst dann in einem Fachjournal. Viele Kollegen, nicht nur Christian Drosten, sind nun in der schwierigen Situation, dass Ergebnisse schon vorab öffentlich werden. Für diese Vorab-Publikationen wirbt die Weltgesundheitsorganisation, sie sind der Pandemie geschuldet. Die WHO sagt: Der normale Prozess dauert zu lange, wir können nicht drei Monate warten, bis eine Studie durch ein Peer Review gegangen ist und dann ein Journal das Ergebnis veröffentlicht. Wir brauchen diese Daten schneller, um reagieren zu können.

Klingt doch ganz pragmatisch.

Man kann es so darstellen, dass es gut ist, wenn wissenschaftlicher Diskurs öffentlich gemacht wird. Aber viele können damit nicht umgehen und verstehen es falsch. Dadurch kommt es zu solchen Problemen wie jetzt mit der Studie zur Viruslast bei Kindern. Außerdem hat diese Strategie dazu geführt, dass viele Daten ohne Qualitätskontrolle, völlig ungefiltert als Pre-Publikation erscheinen. Da werden falsche Ergebnisse hochgeladen, und die werden dann diskutiert. Jeder kann auf diesen Servern etwas hochladen, ohne jede Expertise. Das ist das Twitter der Wissenschaft.

Was könnte die Lösung für dieses Problem sein?

Man könnte zu den Verlagen, den Fachmagazinen sagen: Beschleunigt ihr bitte eure Prozesse. Bezahlt vor allem diesen wichtigen Peer Review-Prozess, denn das machen alle Wissenschaftler umsonst. Das ist eine unheimliche Belastung. Wenn jeder Reviewer 500 Dollar mit seiner Arbeit verdienen würde, dann würde das auch alles schneller gehen. Das ganze System ist relativ krank, da wird viel Geld verdient, aber diejenigen, die die wissenschaftliche Arbeit machen, kriegen meistens gar nichts. Dadurch dauert es länger, und darauf hätte man durchaus Einfluss. Da könnte man zu den Fachjournalen auch sagen: Jetzt, in der Pandemie-Situation müsst ihr so ein Papier mal in einer Woche durchbringen.

Seit die akute Gefahrensituation sich abgemildert hat, stehen die Forscher in Deutschland immer wieder unter Beschuss. Wäre das vermeidbar?

Es gab ja schnell die Kritik in der Öffentlichkeit, "die Virologen würden Deutschland regieren". Das ist aus meiner Sicht ganz fatal gewesen. In der Anfangszeit der Pandemie gab es aber das Problem, dass man in der Öffentlichkeit zwei Personen etabliert hat, Christian Drosten von der Charité und Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut. Das hat natürlich den fatalen Eindruck erweckt, dass hier nur zwei Leute beraten oder sogar entscheiden. Das hätte von Anfang an vermieden werden müssen.

Was wäre der klügere Weg gewesen?

Die Politik hätte sofort ein großes Gremium etablieren müssen mit den vielen Fachrichtungen, die dort eine Rolle spielen - Ökonomen, Sozialwissenschaftler, andere Mediziner. In einer Pandemie ist nicht nur die virologische Expertise wichtig, sondern von Anfang an ist ein breites Gremium an Expertise das Entscheidende. Eine solche Kommission kann einen Sprecher haben, aber sie steht als Gruppe für ihre Aussage aufgrund der wissenschaftlichen Daten. So können nicht einzelne derart in den Fokus geraten. Das hat die Politik versäumt.

Mit Jonas Schmidt-Chanasit sprach Frauke Niemeyer