Tourismus
Virenschleuder Ischgl: Wie das Coronavirus nach Deutschland kam
Erstmals ist statistisch belegt, welchen Einfluss der Skiort Ischgl bei der Ausbreitung des Virus hatte. Touristen wollen Österreich nun verklagen.
by Hans-Peter SiebenhaarWien. Publikation mit Sprengkraft: Wie sehr der Tiroler Wintersportort als Virenschleuder in Deutschland gewirkt hat, beweist eine am Donnerstag vorgelegte Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Nach dieser Untersuchung ist die Infektionsrate in deutschen Städten und Gemeinden umso größer, je näher sie zu Ischgl sich befinden.
„Schon ein um zehn Prozent kürzerer Anfahrtsweg nach Ischgl erhöht die Infektionsrate im Durchschnitt um neun Prozent“, sagte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr am Mittwoch „Lägen alle deutschen Kreise so weit weg von Ischgl wie der Kreis Vorpommern-Rügen, gäbe es in Deutschland fast 50 Prozent weniger Infektionen mit dem Coronavirus.“
Die Ökonomen haben auf Grundlage der Daten des Robert Koch-Instituts die Erkenntnisse aus den 401 Landkreisen in Deutschland ausgewertet. Demnach gilt der früher so populäre Après-Ski-Ort im Paznauntal als „Ground Zero“ der Pandemie in der Bundesrepublik. Die Studie ist der Indikator dafür, dass kein anderer Ort eine solche Wirkung auf die Verbreitung von Covid-19 in Deutschland hatte wie Ischgl.
„Interessant ist vor allem auch, dass die Entfernung zu Ischgl im Laufe der Zeit für die beobachteten Fälle nicht irrelevant wird“, bilanziert Felbermayr. Er lobt die Schließung der Grenzen zu Österreich, die eine weitere Ausbreitung des Virus im März verhindert habe. „Nach den anfänglichen Infektionen durch heimkehrende Skifahrer gab es keine weitere geografische Verbreitung“, so der Wirtschaftswissenschaftler.
Die Studie ist relevant: Denn bislang versuchen die Tiroler Landesregierung, Tourismuslobbyisten und selbst Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), die Bedeutung von Ischgl als Virenschleuder herunterzuspielen. Das IfW kommt allerdings zum gegenteiligen Ergebnis.
Die Behörden in Innsbruck und in Wien reagierten angeblich fahrlässig und spät auf die Verseuchungsgefahr durch Ischgl. Obwohl bereits am 5. März erstmals ein europäisches Land den Skiort als Risikogebiet eingestuft hatte, wurden erst neun Tage später Quarantänemaßnahmen verhängt.
Zoff um die politische Verantwortung
Der Ischgl-Fall sorgt mittlerweile für parteipolitischen Zoff in Österreich. Der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober wies den Vorwurf zurück, dass sein Ministerium die Tiroler Behörden nicht rechtzeitig gewarnt habe. Bereits zwischen dem 3. und 14. März seien die Meldungen aus Deutschland, aber auch aus zahlreichen anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden oder Belgien nach Tirol weitergeleitet worden.
Kanzler Kurz hatte zuletzt eine Entschuldigung für die Infektion von Tausenden ausländischen Feriengästen mit dem Coronavirus abgelehnt. „Ich würde niemals von den Italienern eine Entschuldigung einfordern, dafür dass italienische Gäste in österreichische Skiorte das Virus eingeschleppt haben, weil sie das sicher nicht absichtlich gemacht haben“, sagte der 33-Jährige. Es sei „falsch, so zu tun, als gebe es einen einzigen Ort, der weltweit für die Pandemie verantwortlich ist“.
Die oppositionelle SPÖ fordert unterdessen „schonungslose Aufklärung“. „Auch wenn für Kurz sowieso immer die anderen die Schuldigen sind, muss das tägliche gegenseitige Sich-Abputzen und Schuldzuweisen endlich ein Ende haben“, sagte SPÖ-Gesundheitssprecher Philip Kucher zuletzt. Er sieht den Tiroler Landeshauptmann Günter Platter (ÖVP) „schwer überfordert“. Platter hatte immer wieder versucht, das Problem Ischgl kleinzureden.
Unterdessen dürfte der angeblich fahrlässige Umgang und die mangelnde Kontrolle durch die österreichischen Behörden in den Skiorten in Tirol ein Nachspiel für Österreich haben. Der Verbraucherschutzverein in Wien bereitet derzeit eine Schadensersatzklage gegen die Republik Österreich vor.
Hohe Summe erwartet
„Die Sammelklage wird mithilfe von Prozessfinanzierern im Herbst eingereicht werden“, sagte Peter Kolba, Vorsitzender des Verbraucherschutzvereins. „Bei unseren Sammelklagen sind vor allem Betroffene beteiligt, die über keine Rechtsschutzversicherung verfügen.“ Bei der Klage gegen Österreich geht Kolba von einer Schadensersatzsumme von mindestens fünf Millionen Euro aus.
Betroffenen mit einer Rechtsschutzversicherung, darunter sind vor allem viele Skitouristen aus Deutschland, rät der promovierte Jurist hingegen zu einer Einzelklage noch bis Ende Juni. Beim Verbraucherschutzverein in Wien haben sich 5400 Betroffene aus 45 Ländern registrieren lassen. Die Touristen stammen aus der ganzen Welt: von Australien über Singapur und Simbabwe bis nach Brasilien und den USA. Die deutschen Touristen bilden mit 65 Prozent die mit Abstand größte Gruppe. Insgesamt seien 25 Skitouristen infolge der Pandemie gestorben.
Die Vorgänge um Ischgl werden derweil für das Fernsehen verfilmt. Der aus Tirol stammende Schriftsteller Felix Mitterer will seine legendäre „Piefke-Saga“ fortschreiben. „Das müssen wir einfach machen. Ich arbeite bereits an einem Exposé“, verriet der 72-Jährige der österreichischen Nachrichtenagentur APA. In den 90ern erzielte der Theaterautor mit seinem satirischen Vierteiler über das Tiroler Urlaubsparadies für Deutsche einen Fernseherfolg.
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