Schockierende Ermittlung

„Kindesmissbrauch in der Mitte der Gesellschaft angekommen”

by

Köln - Polizisten, die schon in viele Abgründe geblickt haben, sind bei Beschreibungen von Verbrechen in der Regel sparsam mit Wörtern wie „unvorstellbar“ oder „unfassbar“. Sie wissen, dass kaum etwas unfassbar ist. Auf der Pressekonferenz im Kölner Polizeipräsidium am Mittwoch fallen diese Vokabeln dennoch gleich mehrfach. Es geht um den Ermittlungsstand des Kindesmissbrauchsskandals um Jörg L. aus Bergisch Gladbach.

Die Ermittler der „Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Berg“ hätten Einblicke erhalten in eine Welt, „die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen sprengt“, sagt Polizeipräsident Uwe Jacob. Die Bilder, Videos und Chats, die die Dutzenden Verdächtigen untereinander getauscht haben sollen und die die Kölner Polizisten seit acht Monaten auswerten, sind derart abartig, dass bislang drei Ermittler darüber dauerhaft erkrankt sind – „trotz psychosozialer Unterstützung“, wie Jacob betont.

Und noch während der Polizeipräsident, sein Ermittlungsleiter Michael Esser und Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer im Erdgeschoss über das Verfahren berichten, bereiten 120 Ermittler in den oberen Etagen eine noch für Mittwochabend geplante Durchsuchung bei einem weiteren Tatverdächtigen in Süddeutschland vor.

Insgesamt 44 Opfer konnte die BAO Berg bislang identifizieren. Das jüngste ist drei Monate alt, das älteste 14 Jahre. 32 Tatverdächtige wurden allein in NRW identifiziert, 72 sind es bundesweit, zehn sitzen in Untersuchungshaft. Diese Woche hat das Landgericht Kleve einen 27 Jahre alten Soldaten wegen Kindesmissbrauchs zu zehn Jahren Haft und unbefristeter Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Viele der Verdächtigen sind Familienväter, sie haben angesehene Berufe, lebten ein nach außen unauffälliges Leben. Das Verfahren zeige, sagen Esser und Jacob, dass Kindesmissbrauch „in der Mitte der Gesellschaft“ angekommen sei. „Uns offenbart sich ein Abgrund, der verstört“, ergänzt Oberstaatsanwalt Bremer. „Diesen Umfang, die Ausprägung und die Intensität hätten wir am Anfang nicht erwartet.“

Die Verdächtigen sollen eigene Kinder und die von Verwandten untereinander getauscht haben, um sie zu missbrauchen. Ihre Erfahrungen und Missbrauchsfantasien teilten sie auf whatsapp.


„Scheuklappen verhindern Aufklärung“

In NRW sind im vergangenen Jahr 2805 Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs erfasst worden – rund 16 Prozent mehr als im Jahr davor.

Rund 84 Prozent dieser Fälle wurden aufgeklärt. „Das ist die höchste Aufklärungsquote der letzten 20 Jahre“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch im Düsseldorfer Landtag. Im Bereich Kinderpornografie stieg die Zahl der Fälle in NRW um etwa 1000 auf rund 2400.

Der SPD-Abgeordnete Andreas Bialas kritisierte, im „Fall Lügde“ seien zahlreiche Hinweise von den Behörden ignoriert worden. Polizei und Jugendämter müssten ihre Haltung gegenüber den Opfern überdenken.

Auch Marc Lürbke (FDP) beklagte, dass eine „Scheuklappen-Mentalität“ die Arbeit blockiert habe. (gmv)


Die jüngste Verhaftung gelang am 13. Mai in Baden-Württemberg: Damit der Beschuldigte nicht noch im letzten Moment Beweismaterial löscht, schossen SEK-Beamte seine Tür mit einer Schrotflinte auf und warfen sich in der Wohnung gleich auf ihn. Es seien Kinderunterwäsche und Beweise im Handy des alleinstehenden Mannes gefunden worden, teilte Esser mit, unter anderem ein Hinweis auf einen weiteren Täter, der im Verdacht stand, einen drei Monate alten Säugling zu missbrauchen. Auch dieser Mann wurde noch am selben Tag festgenommen.

Trotz der jüngsten Ermittlungserfolge gab Jacob auch einen Dämpfer mit: „Wir sind noch lange nicht fertig, ein Ende ist derzeit nicht absehbar.“