Kontaktbeschränkungen bis Jahresmitte - aber viele Ausnahmen
Mindestens noch einen ganzen Monat sollen die Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie gelten. Darauf haben sich Bund und Länder geeinigt. Doch die Spielräume sind so groß, dass es spätestens nach Pfingsten vielerorts schon ganz anders aussehen dürfte.
by Von Jörg Ratzsch, dpaBund und Länder haben sich am Dienstagabend grundsätzlich darauf verständigt, dass die Kontaktbeschränkungen - also die Vorgaben, wie viele Menschen sich wo treffen dürfen - in der Corona-Krise noch mindestens bis 29. Juni gelten sollen.
Allerdings lässt die gemeinsame Vereinbarung auch einiges offen, und im Kleingedruckten wird einmal mehr deutlich, dass die Länder bei dem Thema längst eigene Wege gehen.
DRAUSSEN BIS ZU ZEHN PERSONEN - PRIVATE FEIERN UNBEGRENZT
Verabredet wurde der Kompromiss von den Staatskanzleien der Bundesländer und dem Kanzleramt. In einem gemeinsamen Beschlusspapier heißt es: «Um das Infektionsrisiko gering zu halten, werden die verbindlichen Kontaktbeschränkungen jedenfalls bis 29. Juni fortgeschrieben». Die Länder könnten nun aber den Aufenthalt im öffentlichen Raum mit bis zu zehn Personen oder den Angehörigen zweier Hausstände gestatten.» In sogenannten Protokollerklärungen, die an das Dokument angehängt sind, machen einzelne Länder allerdings deutlich, dass sie davon abweichen wollen.
In ihrem Beschluss verzichten Bund und Länder zudem auf eine Festlegung zur Anzahl der Menschen, die zu privaten Feiern zusammenkommen dürfen. Festgehalten wird lediglich, dass bei «privaten Zusammenkünften zu Hause in geschlossenen Räumen» die Hygiene- und Abstandsregeln umgesetzt und die Zahl der Personen an der Möglichkeit zur Einhaltung der Abstandsregel bemessen werden solle.
WAS DAS IN DER PRAXIS BEDEUTET
Für Bürger heißt es mehr denn je, dass sie die Planungen und Verordnungen ihres jeweiligen Bundeslandes verfolgen müssen. Im gemeinsamen Bund-Länder-Beschluss gibt zum Beispiel Thüringen zu Protokoll, dass es sich vorbehält, abweichende Regelungen für den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu beschließen und es bei privaten Treffen für möglich hält, ganz auf besondere Beschränkungen des Kontaktverhaltens zu verzichten.
Hessen gibt dagegen zu Protokoll, es halte bis auf Weiteres an der Beschränkung auf Personen alleine oder gemeinsam mit einer weiteren Person oder Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes fest. Auch Niedersachsen merkt an, es behalte sich vor, bei seiner auf zwei Haushalte beschränkten geltenden Regelung zu bleiben, wie aus dem Beschlusspapier hervorgeht.
Mehrere Landesregierungen haben zudem bereits Beschlüsse gefasst mit umfangreichen weiteren Lockerungen beispielsweise für Familienfeiern, Kultur, Sport und Schule.
MASKENPFLICHT UND ABSTANDSREGEL
Hier besteht offensichtlich noch die meiste Einigkeit. «Um eine Ausbreitung des SARS-CoV2-Virus zu verhindern und sich individuell vor einer Infektion zu schützen, haben Bürgerinnen und Bürger weiter grundsätzlich einen Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten», steht in dem Beschlusspapier des Chefs des Bundeskanzleramts und der Chefs der Staatskanzleien der Länder. Der «Mindestabstand von 1,5 Metern» ist fettgedruckt. Weiter heißt es: «Diese Maßnahme wird ergänzt durch eine Maskenpflicht in bestimmten öffentlichen Bereichen». Ankündigungen aus den Ländern, die Mund-Nasen-Schutz-Vorgaben für Geschäfte oder Busse und Bahnen fallenzulassen, waren bisher nicht zu vernehmen.
LÄNDER HATTEN VON ANFANG AN DAS SAGEN
Entgleitet nun dem Bund und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zusehends die Kontrolle über die Corona-Vorgaben? Formal waren es von Anfang an die Bundesländer selbst, die entschieden haben, wie sie in der Pandemie vorgehen. Sie sind im föderalen System für die meisten Dinge von Schule über Kita, Polizei und Tourismus selbst zuständig. Zu Beginn der Corona-Pandemie hatten sich unter dem Eindruck der Ereignisse aber alle auf ein weitgehend einheitliches Vorgehen verständigt und Kanzlerin Merkel und der Bundesregierung damit auch eine Führungsrolle zugewiesen. Es kam zudem zu Dominoeffekten: Legte ein Land mit einer Maßnahme vor - wie Schulschließungen oder Besuchsverboten in Pflegeheimen - zogen andere nach. Mit den Lockerungen ist es nun ähnlich.
Mit der vorübergehenden Einheitlichkeit war es spätestens am 6. Mai vorbei - dem Tag der letzten Schaltkonferenz zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder, als vereinbart wurde, dass Länder und Behörden vor Ort wieder mehr in Eigenregie entscheiden sollen. Das war auch zu diesem Zeitpunkt bereits im Gange.
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) sagte im RTL-Mittagsjournal «Punkt 12»: «Die Länder haben die verfassungsmäßige Verantwortung, die Regeln für die Bürger auszugestalten. Die Rolle des Bundes sind andere Themen: Unterstützung von Unternehmen, Konjunkturpakete, damit unsere Wirtschaft anläuft, damit die Arbeitsplätze gesichert sind.» Thüringen habe das Signal gesetzt, sehr weit öffnen zu wollen. Es bleibe aber auch bei der Aufforderung des Bundes, nicht zu forsch vorzugehen.
ZAHL DER NEUINFEKTIONEN TROTZ LOCKERUNGEN AUF NIEDRIGEM NIVEAU
Eine Frage, die sich wohl viele stellen: Warum ist die Zahl der Neuinfektionen trotz weitreichender Lockerungen niedrig geblieben? Pro Tag werden momentan einige Hundert neue Infektionen gemeldet. Anfang April waren es noch mehrere Tausend pro Tag. Die Zahl der registrierten Infektionen liegt inzwischen bei rund 180.000.
Das Verhalten der Menschen habe sich bereits vor den Beschränkungen verändert, betont die Virologin Melanie Brinkmann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus seien viele Menschen weniger unterwegs gewesen und die Reproduktionszahl bereits gesunken, ehe Beschränkungen offiziell eingeführt wurden. «Auch jetzt gehen noch nicht alle gleich wieder normal einkaufen.» Brinkmann zufolge hat auch die Maskenpflicht Wirkung gezeigt. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit sieht vor allem drei Gründe für die niedrigen Infektionszahlen: der Verzicht auf Großveranstaltungen, die Hygieneregeln sowie die Wahrung der Abstandsregeln.