Seelsorge nach Verbrechen
„Den Tätern wird geholfen – das Opfer muss selber kämpfen”
- Marianne Weich (74) engagiert sich seit mehr als drei Jahrzehnten ehrenamtlich für den Weißen Ring in Köln.
- Sie betreut Menschen, die kleinen und schweren bis grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Viele Fälle gehen ihr persönlich nahe.
- Den Tätern, findet Marianne Weich, wird in Deutschland überwiegend noch immer besser geholfen als ihren Opfern.
- Ein Interview über Traumata, Verzweiflung und das Glück, helfen zu können.
- Teil 10 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“
Köln - Frau Weich, Sie haben in bisher 32 Jahren beim Weißen Ring mehr als eintausend Opfer von Straftaten betreut. Welcher Fall geht Ihnen bis heute nach?
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Der Fall von Shirin M., eine ganz furchtbare Sache. Das ist schon viele Jahre her. Shirin hatte in einer Disco auf den Ringen in Köln einen Türsteher kennen gelernt. Er wohnte mit seinen Eltern zusammen. Über Wochen hat er sie in dieser Wohnung eingesperrt, sie misshandelt und vergewaltigt. Er hat Sprüche in ihren Körper geritzt, ihre Wimpern ausgerissen, hat sie gezwungen, seinen Urin zu trinken. Sie hatte Verletzungen am Leib, von denen ein Rechtsmediziner später vor Gericht sagte, er habe derart schwere Verletzungen zuvor noch nie an einer lebenden Person gesehen.
Wie ist Shirin M. diesem Mann entkommen?
Eines Nachts, nachdem er sie wieder geritzt hatte, ist er betrunken eingeschlafen. Sie wollte abhauen, aber die Wohnungstür war abgeschlossen. Den Schlüssel hat sie schließlich in der Jackentasche des Vaters gefunden. Sie ist blutend in Unterhose auf die Straße gelaufen, mitten in Köln-Mülheim, und hat ein Auto angehalten. Der Fahrer hat nur gesagt: „Sie machen den Wagen dreckig, gehen Sie weg“ und ist weitergefahren. Andere Zeugen haben dann die Polizei gerufen.
Was geschah mit dem Täter?
Ein SEK hat ihn festgenommen. Noch vor Beginn der Gerichtsverhandlung wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen und hat sich während des Prozesses abgesetzt. Seine Eltern sagten, er habe sich in der Türkei umgebracht. Aber dafür gibt es bis heute keinen Beweis.
Haben Sie noch Kontakt zu Frau M.?
Ja, sie ruft hin und wieder an. Es geht ihr nicht besonders gut, sie kann zum Beispiel bis heute nicht arbeiten gehen. Immerhin bekommt sie eine lebenslange Rente nach dem OEG, dem Opferentschädigungsgesetz. Mehr als 400 Euro im Monat. Das haben wir damals zusammen beantragt. Einmal rief eine Ärztin aus einer Therapieklinik an und bat mich zu helfen, weil eine Sachbearbeiterin aus einem Sozialamt irgendwo im Ruhrgebiet Frau M. eine finanzielle Umzugshilfe verweigerte und was noch schlimmer ist: dass sie so unsensibel war und Frau M. mehrfach zum Weinen brachte.
Was haben Sie getan?
Ich habe diese Frau angerufen und Sie nach dem Namen ihres Amtsleiters gefragt, ich wollte eine Dienstaufsichtsbeschwerde einreichen. Da bat sie um zwei Tage Zeit – dann hatte sie Shirin M. eine Umzugshilfe und eine Wohnung besorgt. Das sind natürlich die schweren Fälle. Die meisten Fälle, die ich beim Weißen Ring betreut habe und betreue, sind eher kleine Sachen.
Was zum Beispiel?
Raubüberfälle, bei denen niemand verletzt wurde oder Diebstähle. Wobei Kleinkriminalität für ein Opfer natürlich auch ganz schlimm sein kann. Nehmen Sie die Rentnerin, die sich 300 Euro von der Bank holt und dann bestohlen wird – das kann für sie genauso schlimm sein wie für einen anderen, der ein paar tausend Euro verloren hat.
Wie können Sie der Rentnerin konkret helfen?
Ich hatte mal eine Frau, die ihren 80. Geburtstag mit Freundinnen in einem Lokal auf der Severinstraße feiern wollte. Auf dem Weg dahin haben Jugendliche ihr die 500 Euro abgenommen, die sie für diesen Anlass lange gespart hatte. Der Frau konnten wir noch am selben Tag eine Soforthilfe von 250 Euro bar auszahlen, und die anderen 250 Euro hat der Weiße Ring ihr später auch ersetzt. Am schönsten für die Dame war aber, dass die zwei Polizisten, die sie in mein Büro begleitet hatten, aussahen wie Jan Fedder und seine Schauspielkollegin vom „Großstadtrevier“. Das war ihre absolute Lieblingsserie. Die Frau hat richtig gestrahlt.
Sie waren Verwaltungsbeamtin bei der Kölner Polizei, sind seit Jahrzehnten beim Weißen Ring, und Sie waren Schöffin am Kölner Landgericht – haben Sie den Eindruck, dass unsere Gesellschaft gut mit den Opfern von Kriminalität umgeht?
Ehrlich gesagt: Nein. Opfer werden oft nicht ernst genug genommen. Den Tätern wird geholfen. Die haben im Knast Therapeuten, Seelsorger und andere Fachleute, die sich um sie kümmern. Das Opfer aber muss selber kämpfen. Und wenn es nicht die Kraft dazu hat oder die sprachlichen Fähigkeiten fehlen, dann ist die Gefahr groß, dass es auf der Strecke bleibt. Das finde ich schlimm.
Was würden Sie ändern?
Es gibt ja außer dem Weißen Ring noch viele andere Hilfsorganisationen, kirchliche Verbände zum Beispiel. Es müsste doch möglich sein, jedem Opfer den Weg zu zeigen, der für ihn richtig ist, es also gleich nach der Tat an die Hand zu nehmen und zu sagen: Jetzt machst du das, dann gehen wir da hin, und dann gibt es auch noch das und das. Ich finde, dass den Tätern mehr geholfen wird als den Opfern.
Was haben Sie gedacht, als Sie hörten, dass der Loveparade-Prozess eingestellt wird?
Wie entsetzlich für die Opfer und die Hinterbliebenen. Die müssen wahnsinnig enttäuscht sein, einige schimpfen jetzt sicher auf den deutschen Rechtsstaat.
Was hilft Verbrechensopfern in der ersten Phase am meisten?
Ganz wichtig ist ein guter Therapeut. Da unterstützt der Weiße Ring auch gerne bei der Vermittlung. Am wichtigsten aber ist es, dass sich das Opfer von Anfang an ernst genommen fühlt. Zum Beispiel, indem man ihm zuhört. Ich sage den Opfern immer: Wir haben jede Menge Zeit, erzählen Sie, was Sie auf dem Herzen haben. Einmal meinte eine Frau: Das dauert bei mir aber ein paar Stunden. Dann antworte ich: Dann nehmen wir uns jetzt eben ein paar Stunden.
Sie haben viele Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution betreut und ihre Geschichten gehört. Wer hilft Ihnen eigentlich, das alles zu verarbeiten?
Ich hatte einige sehr liebe Kollegen bei der Polizei. Vor allem zu Jupp Menth, dem kölschen Schutzmann, konnte ich mich immer gehen, wenn was war. Ein echter Kölscher Jung, der hat mich immer schnell wieder zum Lachen gebracht, vor allem, wenn ich mich mal wieder geärgert habe über Sachbearbeiter in Ämtern, die den Opfern eine Rente oder andere Dinge verwehren wollten. Einen gab es, der hat die Leute noch angerufen und sie aufgefordert, ihren Antrag zurückzuziehen, weil der angeblich keine Aussicht auf Erfolg hatte.
So etwas weckt Ihren Ehrgeiz?
Natürlich.
Wo doch die wenigsten Menschen Lust haben, sich mit Behördenpost, Anträgen und Widersprüchen herumzuschlagen. Ihnen macht das Spaß?
Ach, ich kenne das ja, ich habe ja selber in einer Behörde gearbeitet. Und dieser Sachbearbeiter, von dem ich gerade sprach, war ein echter Mistpuckel. Ich habe immer schon gerne gekämpft. Wenn einem meiner drei Brüder Unrecht geschah, bin ich auf die Barrikaden gegangen. Einer wurde mal von seinem Chef bezichtigt, einem Kunden eine Kamera gestohlen zu haben. Da habe ich den Chef zu Hause angerufen und ihm mit der Polizei gedroht. Der ist sofort zu meinem Bruder auf die Baustelle gefahren und hat gesagt: Die Kamera ist wieder aufgetaucht, die Sache ist erledigt.
Sind Sie selbst auch schon mal Opfer eines Verbrechens geworden?
Ja, kürzlich erst. Ich bekam Post von einem Inkassobüro und sollte Rechnungen begleichen über Dinge, die ich nie gekauft hatte. Da hatte ein Betrüger einfach meine Anschrift als seine Rechnungsadresse angegeben.
Man kann sich vorstellen, wie die Sache ausgegangen ist.
Ich habe mich beschwert. Das Inkassobüro hat mir einen Brief zurück geschrieben, hat sich bedankt und versprochen, sie würden mich in Zukunft in Ruhe lassen.
Das Gespräch führte Tim Stinauer