Steuerskandal

„Der Staat macht sich zur Lachnummer“ – Cum-Ex-Kritik an NRW-Justizminister Biesenbach

Die Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals, der größten Steueraffäre in der Geschichte Deutschlands, lahmt. Es drohen bereits Verjährungen. Der Unmut über NRW-Justizminister Peter Biesenbach wächst.

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Bankenskyline in Frankfurt

Die Justiz hat im Kampf gegen illegale Cum-Ex-Steuerdeals zahlreiche Banken im Visier.(Foto: dpa)

Düsseldorf, Köln. Der Weckruf des Bonner Gerichtspräsidenten Stefan Weismann in der Cum-Ex-Affäre hat die deutsche Politik aufgerüttelt. Seit zwei Jahren ist am Bonner Landgericht eine Strafkammer eingerichtet, die sich ausschließlich um die Verhandlung sogenannter Cum-Ex-Fälle kümmern soll. Weitere Kammern stehen vor dem Start. Zehn Prozesse gleichzeitig könnten in Bonn geführt werden – doch bisher kam nur eine Anklage dort an. Die Staatsanwaltschaft Köln, bei der allein 68 Cum-Ex-Fälle lagern, ist völlig unterbesetzt.

„Wenn der Präsident des Bonner Landgerichts vor einer drohenden Verjährung warnt, sollte man aufhorchen“, mahnt nun Lisa Paus, die finanzpolitische Sprecherin der Partei Bündnis 90/Die Grünen. „Die Welt schaut auf Bonn. Gerade die schwarz-gelbe Regierung in NRW täte gut daran, keinen Zweifel an ihrer Unterstützung der vollständigen Aufarbeitung aufkommen zu lassen und die gute Arbeit der letzten Jahre nicht zu gefährden.“

Tatsächlich gibt es keinen Zweifel, dass die deutsche Justiz bei der Aufarbeitung der Cum-Ex-Fälle weltweite Aufmerksamkeit erfährt, allein schon deshalb, weil die größten Geldhäuser des Globus und ihre Topmanager selbst betroffen sind – als Beschuldigte.

Beim Handel von Aktien mit (cum) und ohne (ex) Dividendenanspruch erschlichen sich die Beteiligten doppelte Erstattungen von Kapitalertragsteuern. Der Schaden für die Allgemeinheit wird auf zwölf Milliarden Euro geschätzt. Dem Handelsblatt liegt eine Liste von 130 Finanzinstituten vor, die in Cum-Ex-Geschäfte involviert waren.

Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt gegen die Deutsche Bank, Santander, Barclays, Société Générale, Macquarie, Blackrock und viele mehr. Hunderte von Mitarbeitern sind beschuldigt, darunter ehemalige und aktive Vorstände. Die große Mehrheit bestreitet ein Vergehen, an ihrer Verteidigung arbeiten Anwälte aus den hochkarätigsten Kanzleien der Welt.

68 Verfahrenskomplexe

Jahrelang stellte die NRW-Justiz dieser Phalanx nur ein Mini-Team gegenüber. Im Herbst 2019 bearbeiteten 4,7 Ermittlerstellen 56 Verfahrenskomplexe mit mehr als 400 Beschuldigten. Am 17. September 2019 verkündete Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach eine Verdoppelung der Cum-Ex-Ermittlertruppe und versprach „Anklagen im Akkord“. Seitdem ist keine einzige Anklage mehr am Gericht angekommen. Stattdessen wurden zusätzliche Verfahren von der Staatsanwaltschaft Düsseldorf nach Köln übertragen. Dort liegen nun 68 Verfahrenskomplexe mit 900 Beschuldigten.

Die eigens für solche Fälle eingerichtete 12. Große Strafkammer am Landgericht Bonn ist in Sachen Cum-Ex arbeitslos. Dabei war der erste Prozess, begonnen im September 2019, ein voller Erfolg. Die Beschuldigten wurden verurteilt, die Richter sprachen dem Steuerzahler im März 176,5 Millionen Euro Schadensersatz zu. Seitdem warten sie auf die zweite Anklage. „Wir könnten mehrere Hauptverhandlungen parallel führen“, sagte Gerichtspräsident Stefan Weismann. „Aber das scheint im Moment schwierig zu sein. Wenn die Dinge nicht beschleunigt werden, droht in einigen Fällen die absolute Verjährung.“

„Bankrotterklärung im Kampf gegen den Steuerbetrug“

Der Vorgänger von NRW-Justizminister Biesenbach kommentiert dies mit scharfen Worten. „Wenn tatsächlich eine Vielzahl der Verantwortlichen ohne Anklage davonkommen sollte, dann ist das wie eine Bankrotterklärung im Kampf gegen den Steuerbetrug“, sagt Thomas Kutschaty (SPD). „Der Justizminister scheint nicht verstehen zu wollen, was das dann zur Folge hätte: einen massiven Vertrauensverlust der ehrlichen Steuerzahler.“

Diese Sorge teilt auch Norbert Walter-Borjans. Der heutige SPD-Parteivorsitzende war von 2010 bis 2017 Finanzminister von Nordrhein-Westfalen. Seine Strategie, Insidern ihr Wissen über dubiose Finanzgeschäfte abzukaufen, machte sich vielfach bezahlt. Die NRW-Steuerfahndung konnte allein mit dem USB-Stick, den Walter-Borjans 2015 für fünf Millionen Euro ankaufte, Steuernachzahlungen und Bußgelder von mehr als 100 Millionen Euro in die Staatskasse holen. Die Aussicht, dass nicht alle Steuern zurückgezahlt werden und die Verantwortlichen strafrechtlich ungeschoren davonkommen, erzürnt den Ökonomen.

„Gerade jetzt wird deutlich, wie schamlos es ist, über Jahre nicht nur keine Steuern gezahlt, sondern sich aus der Steuerkasse bedient zu haben“, sagt Walter-Borjans. „Ohne die ehrlichen Steuerzahler wäre das Hilfspaket und die Bedienung der hohen Kredite, die dafür aufgenommen werden müssen, nicht zu machen. Die Aufklärung, Rückforderung und künftige Verhinderung geplünderter Steuergelder müssen ganz oben auf die Tagesordnung.“

Finanzpolitiker sehen den Fall Cum-Ex als Fortsetzung einer Dauerkrise. „Der Personalmangel bei der Strafverfolgung und der Steuerfahndung bleibt ein leidiges Dauerthema in Deutschland“, sagt Lisa Paus von den Grünen.

Abwägung von Kosten und Nutzen gefordert

Gerhard Schick, Vorstand der Bürgerbewegung „Finanzwende“, mahnt: „Die drohende Verjährung bei Cum-Ex ist seit Jahren öffentlich Thema. Da ist von Regierungen in Bund und Land häufig abgewiegelt worden, obwohl das Problem eindeutig erkennbar war.“

Er habe, so Schick, „überhaupt kein Verständnis, wenn von der NRW-Landesregierung nicht die nötigen personellen Ressourcen bereitgestellt werden, um die Täter anzuklagen. Ansonsten lachen sich die Beschuldigten ins Fäustchen.“

Paus appellierte an das NRW-Ministerium, doch Kosten und Nutzen der Aufklärung nachzurechnen. Biesenbach sollte „umgehend für alle erforderlichen Ressourcen sorgen. Das wird sich auch für den Steuerzahler auszahlen: Jeder zusätzliche Beamte bringt derzeit dem Fiskus ein Vielfaches seines Gehalts.“

Die Grünen fordern nun offiziell Rechenschaft. „Die mangelnde Personalausstattung der Justiz lässt daran zweifeln, dass der Rechtsstaat durchsetzungsfähig ist“, sagt der rechtspolitische Sprecher der Grünen im NRW-Landtag, Stefan Engstfeld. „Es zeigt auch, dass die Staatsanwaltschaft von ihrem Dienstherrn Biesenbach trotz markiger Ankündigung, die Aufarbeitung dieses Steuerskandals zur Chefangelegenheit zu machen, hängen gelassen wird.“

Nun besteht die Gefahr, dass der Staat sich in der Cum-Ex-Affäre zur Lachnummer macht, fürchtet Engstfeld. Am Dienstag schrieb er deshalb einen sogenannten Berichtswunsch an den Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Werner Pfeil. Der Personalmangel der Justiz in der Cum-Ex-Affäre solle als Tagesordnungspunkt auf der Sitzung am 10. Juni behandelt werden. Das Justizministerium möge schriftlich berichten, wie die Justiz des riesigen Problems Herr werden wolle.

Wird aus dem Steuer- ein Justizskandal?

SPD-Politiker Kutschaty warnt bereits vor einer Mutation der Cum-Ex-Affäre: „Aus dem Steuerskandal droht ein Justizskandal zu werden“, sagt der SPD-Politiker. Die nötige massive Aufstockung des Personals bei den Staatsanwaltschaften habe etwas „mit politischem Willen und der politischen Haltung zu tun, die man gegenüber den Verbrechern an den Tag legt. Aber die Landesregierung nimmt die Aufarbeitung dieses Skandals ganz offensichtlich nicht ernst. Das Versagen ist also vorprogrammiert.“

Sollte es so kommen, wäre Kutschaty freilich nicht unbeteiligt. Der SPD-Politiker war als Vorgänger von Biesenbach von 2010 bis 2017 Justizminister von NRW. Der Cum-Ex-Skandal war schon zu Beginn seiner Amtszeit bekannt. Das Magazin „Der Spiegel“ berichtete am 31. August 2009 über das Thema Cum-Ex. Die Überschrift: „Steueroase Deutschland“. Im Laufe der Zeit häuften sich die Artikel, in Kutschatys letztem Amtsjahr konnte er mehr als 2000 dazu lesen.

Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte bereits gegen Hunderte von Beschuldigten. Ihre Personalausstattung für Cum-Ex-Fälle lag unter Dienstherr Kutschaty bei 2,5 Stellen.

Mehr: Wie die Justiz bei der Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals lahmt, und warum Verjährungen drohen