Corona-Hilfspaket der EU
Deutlich mehr Macht für die Europäische Union
by Eine Analyse von Michael RauchensteinDer Druck auf EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen war während der letzten fünf Wochen enorm. Am 23. April 2020 hatte sie von den Staats- und Regierungschefs den Auftrag erhalten, ein Wirtschaftsprogramm zu erarbeiten, das den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft nach der Coronakrise mit voller Kraft unterstützen soll und mit dem mehrjährigen Finanzrahmen für die Jahre 2021 bis 2027 kombiniert werden soll.
Nun liegt der Vorschlag auf dem Tisch – rund 2000 Seiten dick und mit einigen Tabubrüchen, die vor Corona noch undenkbar gewesen wären.
Die EU als Schuldenunion
Das Kernstück des Hilfspakets: Die Mitgliedsstaaten sollen weitere Gelder von der EU erhalten. Um für diesen Wiederaufbau-Fonds Gelder zu beschaffen, soll die EU-Kommission innerhalb eines befristeten Zeitraums Anleihen herausgeben und so am Kapitalmarkt 750 Milliarden Euro aufnehmen. Die EU soll sich also am Kapitalmarkt verschulden und dieses Geld als Zuschüsse (500 Milliarden) und Kredite (250 Milliarden) via den europäischen Haushalt an die besonders hart getroffenen Mitgliedsländer weiterleiten.
Das wäre in diesem Ausmass ein Novum und eine Machterweiterung für die Kommission. Mit dem Vorschlag hat sich die Kommission auch endgültig von den kontrovers diskutierten Corona-Bonds verabschiedet. Auch wenn es sich beim jetzigen Vorschlag nicht um eine Schuldvergemeinschaftung wie bei Corona-Bonds handelt, würde die EU einer Schuldenunion näherkommen.
Ein Mitgliedsland würde für seinen Anteil am EU-Haushalt haften. Europäische Schulden wären während der Finanz- und Eurokrise noch undenkbar gewesen und sind in den EU-Verträgen auch nicht vorgesehen.
EU-Kommission will eigene Steuereinnahmen
Die Europäische Union hat bis dato keine Möglichkeit, eigene Einnahmen zu generieren. In ihrem Papier schlägt die Kommission nun unter anderem vor, via neu geschaffener Plastik- und Digitalsteuern zu Geld zu kommen, um die für das Hilfspaket aufgenommenen Schulden teilweise eigenständig tilgen zu können.
Diese Massnahme würde einen weiteren Machtzuwachs für die Europäische Kommission und auch einen Tabubruch bedeuten. Bis jetzt liegt nämlich die Finanzhoheit bei den einzelnen Mitgliedsstaaten.
Intensive Diskussionen erwartet
Das erste Corona-Hilfspaket in der Höhe von 540 Milliarden Euro wurde vor allem von der Diskussion rund um die Corona-Bonds geprägt. Dieses zweite Hilfspaket, das fast doppelt so viel kostet, wird wohl zu kontroverseren Diskussionen zwischen den Mitgliedsstaaten führen. Dies, weil sich die sogenannt «sparsamen» vier Staaten – Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark – gegen Zuschüsse an Staaten wie Italien oder Spanien wehren.
Das erste Hilfspaket der EU
Am Videogipfel des Europäischen Rats vom 23. April 2020 haben sich die Staats- und Regierungschefs auf das erste Corona-Hilfspaket in der Höhe von 540 Milliarden Euro geeinigt. Dieses beinhaltet drei Sicherheitsnetze, welche die Staaten, die Unternehmer und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterstützen sollen.
- Gelder aus dem europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in der Höhe von 240 Milliarden Euro für die Mitgliedsländer
- Gelder der europäischen Investitionsbank (EIB) in der Höhe von 100 Milliarden Euro für die Unternehmen
- Gelder in der Höhe von 100 Milliarden Euro aus dem EU-Programm «Sure» für Kurzarbeit.
Dazu kommt, dass die Macht der EU-Kommission durch die Massnahmen zunehmen würde. Eine direkte Konfrontation, vermutlich wieder in Brüssel und nicht via Videokonferenz, wird es am EU-Gipfel Mitte Juni geben. Da muss es Von der Leyen gelingen, dass alle 27-Mitgliedsstaaten dem Wiederaufbauprogramm und dem mehrjährigen Finanzrahmen zustimmen.
So wie Von der Leyen das Hilfspaket heute vorgestellt hat, wird es wohl von den Staats- und Regierungschefs nicht eins zu eins übernommen. Es bietet aber für die anstehenden Verhandlungen eine solide Grundlage.
Michael Rauchenstein
SRF-Korrespondent TV in Brüssel
Während seines Studiums der Politikwissenschaft an der FU Berlin arbeitete Michael Rauchenstein zweieinhalb Jahre als freier Redaktor für SRF in Berlin. Nach einem Jahr in der Auslandredaktion (und bei der Arena) in Zürich ist er seit März 2020 TV-Korrespondent in Brüssel.