Der Maler, dessen Kunst elf Hurrikans überlebte
Er war der erste schwarze Großgrundbesitzer und wurde doch zum Tagelöhner. Das dramatische Leben von Frank Walter erzählt von einem langen Kampf gegen Stigmatisierungen. Jetzt wird sein Werk entdeckt – und bezeugt die Kraft von Kunst, die aus dem Leben schöpft.
Eine universelle Welt entfaltet sich in einem winzigen Bild. Frank Walter nahm die einfachsten Materialien und transformierte sie zur Kunst. Wenn er nicht malte, schrieb er, wenn er nicht schrieb, nahm er Tonbänder auf. Walter lebte, vielleicht in seiner eigenen Welt, vielleicht nur in der Kunst.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass der Name Frank Walter – geboren 1926, gestorben 2009 – hierzulande nur ganz wenigen Kunstkennern ein Begriff ist. Zeitlebens stellte Walter nicht wirklich aus, zumindest nicht in den großen Museen oder international bekannten Kunsthallen. Seine Kunst stand sorgsam in Kisten verpackt in seinem Atelier, auf einem Hügel auf der karibischen Insel Antigua, ganz so als warte sie nur darauf, endlich auf Reisen zu gehen.
Schon in den 1970er-Jahren hatte sich Walter immer wieder darum bemüht, seine Malereien, Objekte und geschnitzten Skulpturen auszustellen. Er hat Briefe geschrieben, Ministerien kontaktiert und richtige Programme mit Lesungen und Jazz-Konzerten konzipiert. Doch seine Mühen blieben ohne Erfolg. Die gestapelten Boxen wurden nie abgeholt. 2009 ist Walter, der Sohn eines weißen Plantagenbesitzers und einer schwarzen Sklavin, auf Antigua gestorben.
Abseits der Stadt Liberta verbrachte Walter seine letzten Lebensjahre. Sein Haus mit Atelier hatte er sich selbst gebaut, Wellblechwand für Wellblechwand. Er lebte abgeschieden, ohne Wasser und Strom. Aber dort in der Einsamkeit, wo der warme Karibikwind nie aufhört kraftvoll zu wehen, entwarf Walter in einer unglaublichen Intensität eine Bildwelt jenseits aller Genregrenzen. Er malte vor allem nachts, berief sich auf seine erlebte Erinnerung und künstlerische Vorstellungskraft.
Nur so lässt sich erklären, dass bei Walter ein einziger feiner Pinselstrich zu einem ganzen Wolkenschweif am Horizont wird. Ein paar Tupfer genügen, damit sich eine grüne Wiese formt. Ein dickes feuchtes Pink trocknet, dann aufreißt und ein Blütenblatt ausformuliert. Frank Walter vertraute keinem Stil. Abstraktion, Figuration, Imagination, das alles vereint sich und löst sich zugleich in seinem Werk auf. Doch gerade wegen seiner offenen Motivik und stilistischen Komplexität gelang es ihm, die Ideen der Romantik in Moderne zu transportieren.
Heute gilt Walter als einer der größten Künstler der Karibik. Nicht umsonst wurde ihm der Inauguralpavillon von Antigua und Barbuda auf der Venedig Biennale im Jahr 2017 gewidmet. Sein Werk, das elf Hurrikans überlebt hat, überwindet Grenzen. Nun zeigt das Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK) in seinen luftigen, verwinkelten Galerien eine umfangreiche Schau (bis 15. November). 400 Malereien, zahlreiche Skulpturen, Objekte, Zeichnungen, Fotografien und 6.000 dicht befüllte Seiten mit autobiografischem Material sind endlich auf ihre lang erhoffte Reise gegangen.
„Ein Museum ist immer ein Ort des Zeigens, aber auch des Nicht-Zeigens.“ Das sind die ersten nachdenklichen Worte der Direktorin Susanne Pfeffer. Der Satz klingt wie ein Mantra, das sanft durch Walters gesamte Retrospektive schwebt. Denkt man an den internationalen Diskurs um die Geschichte und Zukunft der Museen, dann bejaht der Satz die kritische Selbstreflexion des Institutionellen. Doch im Werk und Leben von Frank Walter steht er für so viel mehr.
Nicht nur blieb der Künstler zeitlebens unentdeckt, in seinem Werk hat er immer wieder das Unsichtbare, Unbewusste, ja das Kosmologische thematisiert. Und noch etwas: Walter malte auf alles, was ihm zwischen die Finger kam, auf die leeren Kartonhüllen eines Fotofilms, auf die Rückseiten belichteter Fotografien oder auf ein Stück gefundenes Linoleum. Jedes seiner Bilder hat eine sichtbare Vorder- und eine unsichtbare Rückseite.
Den Kontext und das koloniale Unbewusste sichtbar zu machen, steht auch im Zentrum der Ausstellung. Man bewegt sich nicht nur zwischen weißen frei stehenden Stellwänden, auf denen Walters Bilder vorn und hinten hängen, flaniert vorbei an orangen und blau getünchten Wänden, sondern auch durch Räume hindurch, in denen die Werke jüngerer Künstler der schwarzen Diaspora gezeigt werden.
Da ist zum Beispiel eine Rauminstallation von Kapwani Kiwanga aus raufaserigen Papierrollen, die sanft von der Decke herunterhängen. Das Papier ist aus Zuckerrohr, gilt als holzfrei und will das angekratzte Umweltbewusstsein befriedigen, wenn es für die Produktion von Coffee-To-Go Becher verwendet wird. Damit Zuckerrohrplantagen überhaupt bewirtschaftet werden können, daran erinnert Kiwangas Installation, musste der natürliche Baumbestand erst einmal weichen, das heißt, gerodet werden.
Es sind diese Verwobenheiten und Widersprüche, die Schichten der Geschichte, die auch Carolyn Lazard in ihrer eigens für die Ausstellung entstandenen Arbeit thematisiert. Sie hat sich mit der spezifischen Bildlichkeit Frank Walters beschäftigt. „Recto Verso“ zeigt die gescannten Abzüge der Rückseiten von Walters Malereien. Es sind verblasste Familienporträts, bei denen zu viel chemischer Entwickler droht, das Bild aufzulösen. Oder vergilbte Gruppenfotos von Krankenschwestern, über die sich großzügig Walters Signatur, seine Fingerabdrücke und bunte Farbkleckse ziehen. Was braucht es eigentlich, um ein Bild zu erkennen?
Vielleicht ist Walters Biografie ein wesentlicher Schlüssel zu seinem Werk. Als Kind lernte er Latein, Griechisch und Geschichte. Man schätzte ihn für seinen außergewöhnlichen Intellekt und seine vornehme Ausdrucksweise. Schon mit 22 Jahren erbte er die Plantage seines Vaters und wurde der erste nichtweiße Bodenbesitzer Antiguas. Walter modernisierte den Zuckerrohranbau, versuchte die rassistische Ungleichheit zu mindern und sollte bald die Leitung des gesamten „Antiguan Sugar Syndicates“ übernehmen.
Doch Walter entschied sich für eine Bildungsreise nach Europa. Mit Eileen Gallwey, seiner weißen Cousine, zog es ihn 1953 nach London. Von seinem weißen Onkel verstoßen, hielt er sich als Tagelöhner in der Industrie über Wasser, belegte aber auch Kurse an Colleges, besuchte Bibliotheken, schrieb, malte und zeichnete.
Irgendwann brach er enttäuscht nach Deutschland auf, um sich auf die Suche nach einem anderen Zweig seiner Familie zu begeben, für den auch sein deutscher Name steht. Er fand Arbeit in einer Kohlenzeche bei Mannesmann in Gelsenkirchen, lernte Deutsch und besuchte Frankfurt, Köln und Düsseldorf. Nachts unternahm er lange Wanderungen am Rhein, die ihm für immer in der Erinnerung bleiben sollten und heute die motivische Nähe seiner Nachtbilder zu den Meisterwerken von Caspar David Friedrich begründen.
Aber auf seinen Reisen hatte Walter kaum Geld, manchmal so wenig, dass er sich nicht einmal etwas zu essen leisten konnte. Unter Hungersnot geriet er in Halluzinationen. Er wurde aufgegriffen, wachte in Kliniken und psychiatrischen Anstalten auf. In den dreizehn Jahren, in denen Walter ganz Europa durchkreuzte, war er auch rassistischen Angriffen ausgesetzt, vor allem in seinem kolonialistischen Mutterland Großbritannien.
Die von außen an ihn herangetragenen Zuschreibungen, die aufgrund seiner nicht eindeutig zuortbaren Ethnizität mit einer rassistischen Abwertung einhergingen, verhandelt er auch in seinen Werken. Ein undatiertes Selbstporträt zeigt Walter mit kreidebleichem Gesicht. Der Hintergrund ist schwarz. Schaut man genauer, dann war die erste Farbschicht seines Gesichtes schwarz. Er übermalte es mit einer weißen Maske.
1961 schließlich ging Walter zurück in die Karibik. Auf Dominica wurden ihm zehn Hektar staatliches Land zugeteilt. Er rodete Holz, produzierte Holzkohle und verkaufte die wertvollen Goldstücke an die lokale Gemeinschaft. Aus Akazien- und Mahagoniholz schnitzte er zahlreiche Skulpturen, Figuren auf kleinen Sockeln mit pausbackigen Gesichtern. Es entstand eine imaginierte Porträtserie, die an August Sanders Fotografien erinnert.
Erst 1967 zog es Walter zurück in ein innenpolitisch autonomes Antigua. Er wohnte in dem Haus seiner Familie, führte das Eisenwarengeschäft seines Onkels, kandidierte sogar als Premierminister. Später lebte er mit seinem eigenen Fotoladen von der Hand in den Mund. Er porträtierte Kinder, fotografierte Hochzeiten, baute Rahmen, verkaufte Spielzeug oder kleine handkolorierte Fotokopien. Nur seine kleinen Kunstwerke, die behielt er immer ganz für sich. Sie standen geordnet und sortiert in den Kisten.
Im Frankfurter MMK geschieht nun etwas, das sich Frank Walter so sehnlichst wünschte. In hell erleuchteten Räumen können seine Werke gesehen und betrachtet werden. Dort können sie uns in eine Wirklichkeit entführen, uns mitreißen und geschlossene Türen öffnen. Denn beim Betrachten gelingt seinen Bildern etwas Wunderbares: Walter hält uns nicht mit identitätspolitischen Narrativen auf, sondern vermittelt eine Welt, die wir mit ihm teilen.
Sie zeigen das Leben eines Aristokraten, Intellektuellen, Großgrundbesitzers, Künstlers und Tagelöhners. Walters Identität war von komplexer Struktur, er sah sich in adliger Genealogie, lebte zugleich in ärmlichen Verhältnissen. Fremde Identifikationen qua Hautfarbe haben ihn immer irritiert. Vielleicht ist er vor diesen Mustern, Fremdzuschreibungen und Kolonialisierungen in die Isolation geflohen. Aber er war frei. In der Kunst vereinte er das alte Europa mit der neuen Welt. In seinen Bildern wird seine Geschichte zu unserer Geschichte.
Frank Walter. Eine Retrospektive. MMK Frankfurt, bis 15. November