Streit um Charité-Studie zu Kindern: „Bild“-Attacke auf Drosten! Die Geschichte eines Skandals, der keiner ist
by FOCUS OnlineVirologe Christian Drosten war über Wochen Deutschlands unbestrittener Corona-Experte – sein Wort hat Gewicht. Jetzt ist der Professor der Berliner Charité mit der „Bild“-Zeitung aneinandergeraten – die seine Studie zur Ansteckungsgefahr durch Kinder scharf kritisiert. Die dafür zitierten Wissenschaftler distanzieren sich bereits von der Darstellung des Blatts.
Die Anschuldigungen, die die „Bild“-Zeitung am Montagnachmittag um 16.34 Uhr in den Äther schießt, sind krass. In einem Online-Artikel schreibt die Redaktion: „Fragwürdige Methoden: Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch“ und fragt weiter: „Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?“.
Zur Unterfütterung ihrer These zitiert sie verschiedene Wissenschaftler aus Epidemiologie und Statistik. Sie würden den Charité-Forschern um Christian Drosten vorwerfen, unsauber gearbeitet zu haben – „mit verhängnisvollen Konsequenzen“.
Denn ist die auf Basis der Studie ausgesprochene Empfehlung der Forschergruppe, Schulen und Kindergärten in der gegenwärtigen Situation nicht wieder unbegrenzt zu öffnen, ob der methodischen Mängel ihrer Arbeit nicht nichtig? Suggestiv fragt „Bild“: „Fiel die deutsche Schulpolitik einer falschen Studie zum Opfer?“
Die Erkenntnisse der am 29. April von Drosten und Kollegen veröffentlichten Studie „An analysis of Sars-CoV-2 viral load by patient age“ müssten demnach zumindest mit einiger Vorsicht interpretiert werden, wie Leonhard Held vom Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich im „Bild“-Artikel kritisiert.
„Das hieße: Die Drosten-Forscher hätten ihre eigenen Zahlen falsch verstanden!“
Zentraler Schwachpunkt der Studie sei dem Schweizer Statistiker zufolge die geringe Anzahl der untersuchten Kinder. Zudem komme er bei einer erneuten Auswertung der zusammengefassten Daten zu einem Ergebnis, das den Resultaten der Drosten-Studie fundamental widerspreche. Es gebe moderate Beweise für eine „zunehmende Viruslast mit zunehmendem Alter“, heißt es.
Auch der Statistik-Professor Dominik Liebl von der Universität Bonn „weist auf schwere Ungereimtheiten in Drostens Studie hin“, behauptet die „Bild“. „Die mittlere Viruslast der Altersgruppe Kindergarten ist um 86 Prozent niedriger als die mittlere Viruslast der Altersgruppe der Älteren“, zitiert sie den Wissenschaftler.
Als weiteren Kritiker führt die Zeitung Christoph Rothe an, ebenfalls Statistiker und Inhaber des entsprechenden Lehrstuhls an der Mannheimer Universität. „Dass derart große Unterschiede von den Autoren als ‚nicht signifikant‘ eingestuft werden, liegt daran, dass die verwendeten statistischen Methoden sehr schwach sind“, ist in seinem Namen zu lesen – die Schlussfolgerung bei „Bild“: „Die statistische Analyse der Autoren widerspricht ihrer zentralen Schlussfolgerung.“ Übersetzt in den Sprech der „Bild“-Zeitung heißt es daraufhin: „Das hieße: Die Drosten-Forscher hätten ihre eigenen Zahlen falsch verstanden!“
Und noch einen Experten lässt die Zeitung zu Wort kommen, um den angeblichen Sturm der Empörung über die Studie zur Infektiosität von Kindern zu illustrieren: den Ökonomen und Statistiker Jörg Stoye, der in New York an der Cornell-Universität lehrt.
„Meine Lesart der Charité-Studie kehrt ihre Stoßrichtung um“, heißt es, zitiert „aus einer ausführlichen Analyse der statistischen Methoden des Drosten-Papiers“. Dessen Ergebnisse schienen demnach „von Entscheidungen der Forscher getrieben zu sein“. Weiter heißt es: Die Stoßrichtung der Resultate „stimmt mit den öffentlichen Standpunkten (…) der jeweiligen Hauptautoren überein“. Einen Beleg dafür, dass Schulen weiter geschlossen bleiben sollten, sehe er in Drostens Veröffentlichung nicht.
Das Fazit des Professors falle dementsprechend „bitter“ aus: „Es gibt viele gute Argumente gegen eine schnelle Wiedereröffnung der Schulen, aber die Charité-Studie trägt nichts dazu bei.“
Lesen Sie zum Thema: "Das ist vollkommen irreführend": Drosten verteidigt sich im Podcast gegen "Bild"-Bericht
Schon vor der Veröffentlichung setzt Drosten zum Gegenschlag gegen die „Bild“ an
Studienautor Drosten habe man mit den Vorwürfen der Wissenschaftler konfrontiert, fährt die „Bild“ fort. Darauf habe der Virologe allerdings nicht antworten wollen. „Stattdessen veröffentlichte er die BILD-Anfrage auf Twitter und schrieb dazu, er habe Besseres zu tun“, erklärt die Redaktion.
Innerhalb des Forscherteams würden die Mängel der Studie nach „Bild“-Informationen jedoch bereits diskutiert und zum Teil eingestanden. Belege oder Quellen für diesen Vorwurf nennt die Zeitung nicht.
Die Wahrnehmung von Christian Drosten unterscheidet sich von dieser Darstellung offenbar fundamental. So nannte er die Berichterstattung der „Bild“ bereits vor deren Veröffentlichung am Montagnachmittag „tendenziös“. Auf Twitter teilte er den Screenshot einer Email-Anfrage des „Bild“-Redakteurs von 15.00 Uhr mit der Bitte um eine Stellungnahme bis 16.00 Uhr – zunächst inklusive dessen Kontaktdaten. Diese hat er inzwischen aus dem Netz genommen.
Virologe spricht von „Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang“
Die Kritik am Vorgehen der „Bild“ erneuerte der Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité jedoch später am Abend. Sprach er doch zunächst von „Zitatfetzen von Wissenschaftlern ohne Zusammenhang“ und verwies auf die äußerst knapp bemessene Zeitfrist für eine potenzielle Stellungnahme seinerseits, bekräftigte er um 22.18 Uhr seinen Standpunkt.
Der „Bild“-Reporter habe einen englischsprachigen Mathematiker seines Teams am Telefon „in die Irre geführt“, erklärt Drosten. Der Reporter habe von dem Mitarbeiter die Auskunft erhalten, „dass wir gerade an einem Update der Studie arbeiten, das aber das Ergebnis nicht ändert“. Daraus sei dann eine „interne Kritik gemacht“ worden, kritisiert der Virologe.
Im NDR Info-Podcast „Das Coronavirus-Update“ erläutert er am Dienstagmittag seine Sicht der Dinge ausführlicher und verteidigt die Untersuchung erneut: „Das kann man sich natürlich jetzt irgendwo entweder aus Twitter oder auch diesen Preprints zusammenbauen, was man da daraus zitieren will“, erklärt er. „Nur damit hat man ja nicht verstanden, was diese Wissenschaftler da überhaupt an unserer Studie kritisieren. Aber das sei jetzt mal dahingestellt.“
Angebliche Kritiker distanzieren sich von Darstellung in Bericht
Auch die Zitatgeber der „Bild“ haben sich inzwischen zu Wort gemeldet – und sich deutlich von dem auf ihren Aussagen fußenden Bericht distanziert. „Niemand von Bild hat mit mir gesprochen, und ich distanziere mich ausdrücklich von dieser Art der Berichterstattung“, schreibt etwa der Mannheimer Statistiker Rothe am späten Montagnachmittag auf Twitter.
Ähnlich äußerte sich sein Bonner Kollege Dominik Liebl. Er distanziere sich von dieser Art Menschen unter Druck zu setzen aufs Schärfste. „Wir können uns mehr [sic] glücklich schätzen, Christian Drosten und sein Team im Wissenschaftsstandort Deutschland zu haben“, lobt er den Virologen sogar ausdrücklich. „They saved lifes [sic]!“
„Hätte ich gewusst, dass 'Bild' diesen Satz liest, hätte ich ihn bestimmt nicht geschrieben“
Wirtschaftswissenschaftler Stoye spricht im Interview mit dem „Spiegel“ am späten Montagabend von einer „Bild“-Kampagne, derer er nicht Teil sein wolle. Zur „Bild“-Redaktion habe er keinerlei Kontakt gehabt. Die Aussagen, mit denen sie ihn zitiert, stammten aus einem Aufsatz, den er auf Englisch verfasst habe. Die „Bild“ habe diesen daraufhin „recht freihändig übersetzt“, schildert Stoye die Hintergründe.
Drosten unterstelle er, anders als es der Artikel suggeriert, „keine Intention, schon gar keine bewusste Irreführung“. Auch gehe er nicht ungewöhnlich „hart“ mit seiner Forschungsarbeit ins Gericht, erklärt Stoye. Vielmehr stelle sein auf dem Wissenschaftsportal Arvix.org veröffentlichter Text einen wissenschaftlichen Fachaufsatz dar. Darin würde „schon mal eine undiplomatische Sprache verwendet“.
Ökonom: „In der Wissenschaft gibt es nicht immer die eine richtige Methode“
„Normalerweise schaut dort kein Nichtwissenschaftler hin“, ergänzt er. „Hätte ich gewusst, dass 'Bild' diesen Satz liest, hätte ich ihn bestimmt nicht geschrieben.“
Wer die Studie ganz lese, könne ihn aber kaum missverstehen, endet Stoye. In seinem Fazit zur Studie schreibe er klar: „I emphasize that I do not suggest any intent.“ Er betone also, dass er den Autoren der Studie um Christian Drosten keine Absicht unterstelle, eine bestimmte Methode einer anderen vorgezogen zu haben, um ein bestimmtes Ergebnis damit zu erzielen.
Zwar räumt Stoye ein, dass andere Verfahren, als dasjenige, für das sich Drosten und sein Team entschieden haben, möglicherweise zu anderen Ergebnissen geführt hätten und es auch andere Methoden gegeben hätte. Aber „in der Wissenschaft gibt es nicht immer die eine richtige Methode“.
Dass die Ergebnisse der Arbeit des Virologen aufgrund seiner Aussagen als „grob falsch“, seine Methodik als „fragwürdig“ deklariert wird, bedauert der Ökonom im „Spiegel“-Interview. „Drosten ist ein Gigant der Virologie. Ich habe von seiner Disziplin keine Ahnung, ich bin Statistiker“, sagt Stoye dort. Als er vom Artikel der „Bild“-Zeitung erfahren habe, habe er Drosten daher umgehend eine Email zukommen lassen, wie unangenehm ihm die Situation sei.
Aus dem Konjunktiv macht die „Bild“ schnell mal einen Indikativ
Auf die einordnenden Äußerungen seiner vermeintlichen Kritiker hat auch Drosten selbst noch am Montag reagiert. Zur Kritik am Recherche-Vorgehen des „Bild“-Reporters komme hinzu, „dass die angeblichen Kritiker sich nun reihenweise von der Bild-Darstellung distanzieren“, schreibt er auf Twitter. „Wir haben damals gute Anregungen bekommen und inzwischen eingearbeitet.“ Die Schlussfolgerungen der Studie würden dadurch „sogar noch härter“, so Drosten. Ihre Aussage sei robust.
Auch habe er sich zu Limitationen der Untersuchung bereits „detailliert“ geäußert, ebenfalls im NDR Info-Podcast.
Tatsächlich beschreibt Drosten dort bereits am 30. April die tags zuvor veröffentlichten Ergebnisse seiner Analyse – aus der die „Bild“ bereits zu Beginn ihres Artikels falsch zitiert. So schreibt das Blatt: „Kinder können genauso ansteckend sein wie Erwachsene.“
In Drostens auf Englisch verfassten Arbeit heißt es jedoch lediglich: „Children may be as infectious as adults“, sie könnten also genauso ansteckend sein wie Erwachsene; sie können es nicht zwangsläufig sein, Konjunktiv statt Indikativ.
Methoden-Diskussion nennt Drosten „irreführend“
Was zunächst nach einer akademischen Spitzfindigkeit klingt, macht vor allem in der emotional aufgeladenen Zeit einer weltweiten Pandemie einen entschiedenen Unterschied. Denn es ist demnach keineswegs bewiesen, dass Kinder andere Menschen genauso mit dem Coronavirus anstecken können wie Erwachsene. Es könnte Drostens Ergebnissen nach lediglich so sein. Ob es so ist, das muss weitere Forschung zeigen, wie der Virologe selbst betont.
Das methodische Design seiner Studie rechtfertigt er am Dienstag im NDR-Podcast. „Wir haben dafür relativ grobe statistische Methoden verwendet“, räumt er ein. Die Statistik könnten Kollegen deshalb „vollkommen zu Recht“ kritisieren. Mit besseren Statistiktools hätte man möglicherweise auch andere Unterschiede gefunden. „Das ist sicherlich nicht die normale Art von Studie, die man machen würde, um die Frage nach der Übertragung von und durch Kinder zu beantworten.“
Aber spiele sich die Diskussion darüber lediglich auf einem Nebenschauplatz ab. Die öffentliche Diskussion über methodische Spitzfindigkeiten sei deshalb irreführend. „Aus diesem Grund haben sich auch die zitierten Wissenschaftler distanziert“, sagt Drosten.
Gezielte Diskreditierung einer Corona-Koryphäe?
Seine Vermutung auf Basis der Beobachtungen der Studie hatte Drosten bereits im April-Podcast ausgeführt – und sich recht optimistisch geäußert, dass sie zutreffend sein könnte. Im Lichte seiner Ergebnisse sowie der einer großen US-Studie zur Infektionszeit häuften sich aus seiner Sicht übereinstimmende Beobachtungen, „sodass sich für mich einfach die Indizien jetzt derart mehren, dass ich auf der Basis unserer Studie sagen muss: Es ist wahrscheinlich so“, erklärt er.
„Also ich sage nicht, es könnte sein, dass die genauso infektiös sind wie Erwachsene. Ich sage: Es könnte gut sein, dass die genauso infektiös sind wie Erwachsene.“ Eine definitive Aussage trifft der Wissenschaftler jedoch auch damit nicht. Die Empfehlung, Schulen und Kindergärten nicht unbegrenzt zu öffnen, erscheint daher nachvollziehbar und sinnvoll, um das Risiko einer erneuten Intensivierung des Infektionsgeschehens zu minimieren.
Alle Folgen des NDR-Podcasts mit Christian Drosten
Täglich von Montag bis Freitag spricht der NDR eine gute halbe Stunde mit dem Virologen Christian Drosten über die aktuelle Corona-Lage. Mit seinen Ratschlägen, Meinungen und Tipps ist Drosten inzwischen zu einer der bedeutendsten Stimmen der Corona-Krise geworden. Hier finden Sie alle Folgen des NDR-Podcasts.
Auch der einzige konkret von der „Bild“-Zeitung angeführte Kritikpunkt der zu kleinen Stichprobe an untersuchten Kindern erscheint als Beweis einer wissenschaftlich unsauberen Vorgehensweise fraglich. So untersuchte das Team um Drosten 127 Kinder im Kindergarten- und Schulalter auf das Risiko einer Ansteckung, das von ihnen ausgeht.
Das mag der stärkeren wissenschaftlichen Aussagekraft wegen ausbaufähig und im Wissenschaftsbetrieb kritisch zu hinterfragen sein. Doch erfordert die Virus-Pandemie das Generieren von Erkenntnissen derzeit schneller als es in der Forschung unter normalen Umständen dem Usus entspricht. Viele Studien arbeiten deshalb derzeit mit eher überschaubaren Stichproben. Deshalb als Boulevardmedium die Ergebnisse einer Koryphäe auf dem Gebiet der Coronaviren zu diskreditieren und sich ungefragt Zitaten von Wissenschaftskollegen zu bedienen, erscheint zweifelhaft.
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Wichtige wissenschaftliche Debatte
Den Diskurs in der Wissenschaftswelt begrüßt Drosten indes. Auch hätte seine Forschungsgruppe aufgrund der Rückmeldungen von Kollegen die Daten mittlerweile erneut gecheckt. Dabei seien sie auf eine statistische Verzerrung aufmerksam geworden, wonach zu Beginn der Epidemie in Deutschland vor allem die Proben von Kindern untersucht worden seien, die zwar infiziert waren, aber kaum Symptome zeigten. Im Verlauf der Epidemie habe man vermehrt Kinder untersucht, die schwere Corona-Symptome aufwiesen und eine bereits wieder gesunkene Virenlast im Rachen.
„Wenn wir das separat analysieren, dann ist es überdeutlich, dass die Kinder die gleiche Viruskonzentration haben wie die anderen Altersgruppen auch, da gibt es nichts dran zu kritisieren.“
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