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Bild: Donata Ettlin
Stream-Kritik | "Hamlet" als Solo-Performance

Wer möchte ich sein oder nicht sein?

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Audio: Inforadio | 27.05.2020 | Magdalena Bienert

Shakespeares "Hamlet" als Solo-Performance ohne Original-Text: Der Regisseur Boris Nikitin und der Performer Julian Meding haben das 2016 in Basel auf die Bühne gebracht. Der Stream am Dienstagabend auf nachtkritik.de hat Magdalena Bienert einiges abverlangt.

Die Geschichte von Hamlet wird bei Boris Nikitin nur als Folie benutzt, um über Identität, Individualität, Wahn und Wirklichkeit nachzudenken, lässt sich vorab über die Inszenierung lesen. Der, der uns diese Folie präsentiert, ist Performancekünstler und Musiker Julian Meding.

Mit Wolfsmaske auf dem Kopf singt er zuallererst ein merkwürdiges Lied über den Gefriertod mit der oder dem Liebsten ("Lad mich ein in deine Tiefkühltruhe, wir finden da die ewige Ruhe"), dann, nachdem er sich dem strubbeligen Tierkopf entledigt hat, macht er klar, worauf sich das Publikum die nächsten 90 Minuten einstellen sollte: "Alles was ich mache, können Sie sehen und hören. Alles was ich preisgebe, veröffentliche ich Ihnen gegenüber. Andererseits ist das auch ein geschützter Raum, weil das ist nicht die Realität, das ist eine künstliche Situation, weil die Möglichkeit einer Fiktion besteht."

Ab dann weiß man nicht mehr genau, was Medings eigener Biografie entspricht und was eben nur erfunden ist, um Gesellschafts-Fragen aufzuwerfen. Den Text hat Meding gemeinsam mit Regisseur Boris Nikitin geschrieben. Die Beiden kennen sich aus einer früheren Inszenierung und haben das Hamlet-Solo zusammen entwickelt.

Glatze als Selbstmanipulation?

Meding tigert allein auf dem schwarzen, bis auf einen Klappstuhl, leeren Bühnenboden umher. Er trägt auch Schwarz, Turnschuhe, Skinny-Jeans, Perlenkette um den Hals und ein T-Shirt auf dem "Die Heiterkeit" steht. Dazu der gar nicht heitere, eher blasierte Blick, die permanent gelangweilt-aggressive Ansprache und ein runder, kahlrasierter Schädel, keine Augenbrauen.

Er ist ohne Zweifel jemand, den man gespannt anschaut. Was er dem Publikum, das in der Baseler Kaserne ebenerdig und nah sitzt, jetzt erzählt, könnte der Wahrheit entsprechen: "Ich finde es interessant, diese Attribute (Anm. d. Red.: Haare und Augenbrauen) zu entfernen und mich zu verpixeln, aber es ist eine Form von Selbstmanipulation. Was mir auch daran gefällt, ist: das, was als gesund gilt, herauszufordern. Aber das ist nicht so einfach, man muss das trainieren."

Aber wie er das spricht, geht er einem nach gerade mal einer Viertelstunde mit einem quengeligen, manierierten Tonfall schon auf die Nerven - und nie geht er am Ende eines Satzes mit der Stimme herunter.

Aber den Blick kann man auch nicht von ihm lassen. Das Angeschaut-Werden klagt er später an. Meding ist besonders, bezeichnet sich privat als non-binary-trans, also weder ausschließlich männlich noch weiblich, als Bühnenfigur stellt er ähnliche Fragen nach Identität, nach Solidarität und Gemeinschaft. Erzählt von einer trostlosen Heimat und wie sein Vater stirbt. Da ist er, der erste Hamlet-Moment. Dennoch: Wie er ihn beschreibt, ist Empathie unmöglich.

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Aufzeichnung_Hamlet_0201 from BORIS unsichtbar on Vimeo.

Ablehnung als Stilmittel

2016, als das Stück in der Schweiz Premiere hatte, wurde der Musiker und Künstler bei einem Publikumsgespräch nach der Vorstellung mit der Aussage zitiert: "Es muss möglich sein, dass ein Publikum den Performer und der Performer das Publikum einen ganzen Abend lang ablehnen. Der Abend müsste auch dann funktionieren."

Und ja, es funktioniert, denn möchte man sich eingestehen, dass allein die äußere Erscheinung und Attitüde dem gesprochenen Wort den Rang ablaufen könnte? Wie oberflächlich das wäre! Aber immer wägt man ab: Ist das eine private Information oder die Story? Nikitin hat nicht umsonst keinen echten Schauspieler gewählt.

Unterbrochen werden die großen Fragen des Lebens durch Musik. Uzrukki Schmidt ist das musikalische Alter Ego von Julian Meding und offiziell für die Musik verantwortlich. Schmidt oder Meding oder beide sorgen mit Gitarre und gemeinsam mit dem Barockensemble Der musikalische Garten immer wieder für textlich sehr skurrile, mitunter auch traurige Musikmomente. Am Ende, nach dem doch noch kurz über das Sein oder Nichtsein philosophiert wurde und es im letzten Song um eine Wasserleiche geht (Ophelias Tod lässt grüßen), bleibt man etwas erschöpft vor dem Rechner zurück.

Dieser Hamlet - oder ist es Meding? - will wohl gar nicht gemocht werden, das ist nicht sein Anspruch. Stattdessen gibt sich Meding womöglich doch her, um die Geschichte von Hamlet sichtbar zu machen - die Frage, wer ich sein oder nicht sein möchte, ist so aktuell wie nie. Eine spannende Inszenierung, die als Stream aber echte Konzentration erfordert.