„Für uns wird es einsam“
Wie junge Risikopatienten die Lockerungen erleben
- Immer mehr Einschränkungen zum Schutz vor Corona werden aktuell wieder gelockert.
- Für viele Menschen bedeutet das mehr Freiheiten, bei jungen Risikopatienten sieht das allerdings anders aus.
- Was die Lockerungen mit ihnen machen und wie sie über die Corona-Demos denken: Vier junge Menschen mit Vorerkrankungen erzählen.
Köln - Die Cafés sind wieder geöffnet, selbst ins Freibad darf man und um den Sommerurlaub steht es nicht mehr schlecht. Nach zwei Monaten Kontaktsperre heben Bund und Länder die Schutzmaßnahmen nach und nach wieder auf. Mit jeder neuen Lockerung bekommen die Menschen ein Stück Normalität wieder und die Stimmung erholt sich. Nur die Risikogruppe erlebt die aktuelle Situation anders.
Dazu gehören neben den Älteren auch junge Risikopatienten wie unsere Autorin. Sie schildert, wie sie die aktuelle Lockerungsphase erlebt – und weil Vorerkrankungen so vieles heißen kann, hat sie auch mit anderen jungen Risikopatienten gesprochen. Wie es ihnen mit den Lockerungen geht und was sie von Corona-Demos halten.
Jan Kampmann, 32 Jahre
Jan Kampmann ist seit einem Unfall mit 14 Jahren querschnittgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Sein Lungenvolumen ist daher kleiner und er kann nicht richtig abhusten. Der Journalist ist gerade nach Hamburg gezogen, wohnt aber während der Quarantäne vorübergehend bei seinen Eltern in Mittelhessen. Dort kann er raus, Sport machen oder spazieren gehen. Freunde hat er lange nicht mehr getroffen. Er ist Initiator vom Hashtag „#Risikogruppe“ in den Sozialen Medien.
Wie reagieren Sie, wenn in den Nachrichten neue Lockerungen angekündigt werden?
Jan Kampmann: Als Teil der Risikogruppe bereitet mir Sorge, dass wir uns vom Rest der Gesellschaft entfernen. Es ist, als säßen die gefährdeten Menschen auf einer Eisscholle, die vom Rest des Eisbergs abbricht. Während Lockerungen für Gesunde mehr Alltag bedeuten, bleibt die Risikogruppe zurück. Da wird die Solidarität noch mal auf die Probe gestellt.
Ich bin als Mensch in der Risikogruppe Lockerungen gegenüber nicht prinzipiell kritisch. Viel wichtiger ist die Nachricht, die an die Leute gesendet wird und wie sie sich psychologisch auswirkt. Akzeptieren sie die neue Normalität und halten sich an gelernte Hygienestandards? So lange das funktioniert, die Menschen den Ernst der Lage nicht verkennen, kann man natürlich lockern. Ich verlasse mich auf wissenschaftliche Fakten und die Infektionszahlen bleiben zurzeit auf einem niedrigen Niveau.
Mich beschleicht aber das Gefühl, je alltäglicher das Leben für die meisten wieder wird, desto stärker gerät die Gefahr in Vergessenheit. Wenn ich in der Stadt war, war viel los und ich hatte das Gefühl, man kann sich nicht richtig schützen. Menschen achten wieder weniger auf Hygienemaßnahmen oder Abstandsregeln. Ich habe Angst, dass jetzt alle denken, die Corona-Krise sei vorbei.
Außerdem beunruhigt mich, dass wir Sachen, die wir aus der Krise lernen können, wieder vergessen. Zum Beispiel in Bezug auf die Klimakrise, systemrelevante Berufe oder sozialen Zusammenhalt.
Was denken Sie, wenn Menschen sagen, sie fühlten sich durch die Corona-Regeln fremdbestimmt und in ihrer Freiheit eingeschränkt?
Ich hab die Tage Bilder aus Chile gesehen, wo die Menschen gegen die Ausgangssperre protestieren, weil sie nichts zu essen haben. Der Präsident hatte versprochen, dass die Menschen mit Lebensmitteln versorgt werden, doch mehr wissen sie nicht und drohen zu verhungern. Natürlich lässt sich das nicht richtig vergleichen. Aber das ist ein ganz anderes Level an Protesten. In Deutschland werden die Rechte nur in Maßen eingeschränkt und als vorübergehende Ausnahme. Im Moment finde ich die Einschränkungen der Situation entsprechend.
Was würden Sie jemandem sagen, der überlegt, auf eine Corona-Demo zu gehen?
Politiker sprechen davon, dass Proteste bei solchen Grundrechtseinschränkungen normal sind und nur zeigen, dass wir in einer Demokratie leben. Theoretisch stimmt das, praktisch freue ich mich trotzdem nicht, wenn ich von den Demos lese oder Bilder sehe. Es ist nicht sinnvoll, wenn in der jetzigen Situation teilweise bis zu 10.000 Teilnehmer zugelassen werden. Die Stimmung, die auf den Demos herrscht, ist wenig konstruktiv. Man merkt es am Klientel der Proteste: Sehr problematisch sind die rechten Unterwanderungen.
Zum Glück kenne ich niemanden, der auf eine solche Demonstration geht. Ab und zu entferne ich aber Menschen aus meiner Facebook-Timeline, weil ich nicht ertrage, was sie posten. Daran sieht man, dass es eine Spaltung in der Gesellschaft geben wird. Ich hoffe, dass sie nicht zu tief geht.
Aufgezeichnet von Britta Bauchmüller
Ricarda Drobig, 25 Jahre
Ricarda Drobig hatte zwei Herzmuskelentzündungen, trägt einen Herzschrittmacher, hat chronische Herzrhythmusstörungen und zudem eine chronische Lungenkrankheit. Vor ihrer Erkrankung ist sie Triathlon und Halbmarathon gelaufen. Trotz Einschränkungen ist ihr Sport nach wie vor wichtig. Sie versucht, andere über das Leben mit Herzerkrankungen aufzuklären, wohnt in Hamburg und arbeitet im Krankenhaus.
Wie reagieren Sie, wenn in den Nachrichten neue Lockerungen angekündigt werden?
Ricarda Drobig: Ich kann es ehrlich gesagt nur teilweise verstehen, freue mich aber natürlich für meine Freunde, dass sie nun wieder mehr unternehmen können. Auch wenn ich es als zu früh ansehe. Wirtschaftlich gesehen verstehe ich es in vielen Bereichen, aber ich habe kein Verständnis für Urlaub oder Bundesliga. Wenn man sie sinnvoll umsetzt und Kompromisse eingeht, finde ich Lockerungen richtig. Zum Beispiel beim Sport, wenn Outdoor-Sportarten und Sport im Freien wieder möglich wird, aber in der Halle eben noch nicht. Für mich ändert sich erst mal nichts und ich werde mich da, denke ich, noch lange zurückhalten.
Was denken Sie, wenn Menschen sagen, sie fühlten sich durch die Corona-Regeln fremdbestimmt und in ihrer Freiheit eingeschränkt?
Ich habe dafür Verständnis, dass es für jeden auf seine Art und Weise schwierig ist. Aber ich würde nicht von „Freiheit einschränkend“, oder von „fremdbestimmt“ sprechen. Die Menschen in China mit dem strikten Lockdown können eher über so etwas klagen als wir, die trotzdem noch spazieren gehen durften. Den Menschen, die so etwas behaupten, sollten wir klarmachen, was diese Begriffe wirklich bedeuten. Und wie viele Möglichkeiten und Alternativen sie immer noch haben in den Bereichen, in denen sie sich eingeschränkt fühlen. Ich glaube, besonders da können wir Erkrankte und Risikopatienten helfen und vermitteln. Denn wir sind es gewohnt, uns Alternativen zu schaffen.
Was würden Sie jemandem sagen, der überlegt, auf eine Corona-Demo zu gehen?
Dass er es lassen soll. Ich bin für Meinungsfreiheit und vor allem dafür, sich auch andere Meinungen anzuhören. Aber zum aktuellen Zeitpunkt habe ich kein Verständnis für Corona-Demos und dafür, dass noch mehr Menschen gefährdet werden. Wir sollten uns nicht wundern, wenn dadurch die Reproduktionszahlen wieder steigen und wieder mehr ‚Einschränkungen‘ auf uns zukommen. Ist es das wert, seine eigene Gesundheit und die der anderen zu riskieren, um seine Meinung in der Öffentlichkeit kundzutun – oder reicht es vielleicht auch, das im Internet oder im Freundeskreis zu machen? Das sollte man sich vorher beantworten und sich des Risikos bewusst sein, dem man sich selbst und andere aussetzt. Ich kann diesen Menschen sagen: Erkrankungen und ihre Folgen sind nicht mit Spaß verbunden.
Aufgezeichnet von Britta Bauchmüller
Altan Eskin, 41 Jahre
Altan Eskin arbeitet als Fotograf und Designer in Frankfurt am Main. Im Januar wurde Blutkrebs bei ihm festgestellt, ein Multiples Myelom. Wie er damit lebt, erzählt er täglich online in seinem Blog. Durch die Krankheit und die starken Medikamente ist sein Immunsystem so stark beeinträchtigt, dass eine Infektion für ihn tödlich verlaufen könnte.
Wie reagieren Sie, wenn in den Nachrichten neue Lockerungen angekündigt werden?
Altan Eskin: Bei der Bundesliga kann ich es nicht verstehen, da geht es nicht um den Sport, sondern um Geld. Genauso skeptisch bin ich bei Fitnessstudios, ich glaube nicht, dass diese die notwendigen Hygienestandards im laufenden Betrieb aufrechterhalten können. Urlaub in Deutschland finde ich nachvollziehbar, aber da müssen die Konzepte stimmen. Ich hätte keine Lust, morgens ein Frühstücksbuffet mit allen Hotelgästen zu teilen – nicht mal, wenn ich kein Risikopatient wäre. Ich kann verstehen, dass Eltern ihre Kinder in Kitas oder Schulen schicken wollen, die Belastung ist groß, vor allem für Alleinerziehende. Nur die Gefahr der Neuansteckung ist dadurch natürlich enorm. Ich mache einen großen Bogen um Kinder und Spielplätze.
Die Lockerungen an sich machen mir nicht so viel Angst. Angst habe ich eher vor der Ignoranz vieler Menschen. Die erste Woche nach dem Lockdown war toll, die Straßen waren leer und ich habe mich gefreut, wie gut das funktioniert. Leider war das gute Gefühl eine Woche später dahin. Das Wetter wurde besser und am Wochenende waren alle wieder draußen.
Jetzt ist es noch schlimmer, mit der Lockerung hat sich auch der Umgang geändert. Anfangs hat man sich Platz gelassen auf der Straße, ist im weiten Bogen aneinander vorbei gelaufen. Jetzt scheint sich niemand mehr um Abstand zu scheren, eher muss man wieder aufpassen, dass man nicht angerempelt wird. Die Hoffnung, dass nach Corona etwas von dem positiven Miteinander der ersten Tage bleibt, weicht langsam dem Gedanken, dass alle in ihre alten Muster verfallen werden.
Was denken Sie, wenn Menschen sagen, sie fühlten sich durch die Corona-Regeln fremdbestimmt und in ihrer Freiheit eingeschränkt?
Diese Menschen realisieren nicht, wie gut es hier gelaufen ist. Dass Deutschland ein Szenario wie in Italien und Spanien erspart geblieben ist, verdanken wir größtenteils der guten Regierungsarbeit und auch dem Glück, dass wir nicht die ersten Betroffenen waren.
Nachdem die Katastrophe – massenhaft Tote, Notlazaretts in Parks – ausgeblieben ist, drehte sich der Wind, leider. Als wäre das Virus nicht mehr gefährlich. „Panikmache“ ist so ein Wort, das mich immer zusammenzucken lässt. Und seien wir mal ehrlich: In Deutschland gab es kaum harte Einschränkungen. Jeder konnte an die Luft, Sport treiben oder einkaufen. Eine Maske aufzusetzen, tut nun wirklich niemandem weh.
Was würden Sie jemandem sagen, der überlegt, auf eine Corona-Demo zu gehen?
Auf so ein Gespräch würde ich mich nicht einlassen. Jemand, der diese Entscheidung trifft, ist im Geiste schon so weit weg von Vernunft und Realität, dass jede Diskussion vermutlich mit wahnwitzigen Theorien enden würde. Dafür habe ich keine Energie. Dass sich ausgerechnet in einem Land, das so gut funktioniert, Teile der Bevölkerung verhalten wie die Trump-Anhänger in den USA, ist erschreckend. In keinem anderen europäischen Land ist das so. Ich glaube, kein Italiener oder Spanier würde gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren gehen, nach alldem, was sie erlebt haben.
Aufgezeichnet von Britta Bauchmüller
Britta Bauchmüller, 30 Jahre
Mit 28 Jahren hatte Britta Bauchmüller einen Schlaganfall, mit 29 Jahren eine Nierentransplantation. Seitdem nimmt die Redakteurin starke Tabletten, die das Immunsystem unterdrücken, damit die neue Niere nicht abgestoßen wird. Dadurch könnte sich ihr Körper bei einer Infektion kaum gegen das Virus wehren. Probleme mit Nieren und Blutdruck hatte die Kölnerin bereits als Kind.
Wie reagieren Sie, wenn in den Nachrichten neue Lockerungen angekündigt werden?
Britta Bauchmüller: Es ist oft beklemmend für mich, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass wirklich überall Abstand und Hygieneregeln eingehalten werden. Nicht mal die Patienten beim Arzt achten noch darauf, dabei sitzen dort viele Risikopatienten. Natürlich freue ich mich auch für die Menschen und ihr zurückgewonnenes Stück Normalität – das kenne ich sehr gut. Ich fürchte nur, je mehr gelockert wird, desto leichtsinniger und übermütiger verhalten sie sich.
Für einige Lockerungen habe ich Verständnis – etwa bei der Kinderbetreuung, dem Besuchsverbot oder für kleine Läden. Manche Lockerungen wie der Bundesliga-Start oder Mallorca-Urlaube kommen mir dagegen mitten in einer Pandemie so absurd vor, dass ich lachen muss. Aber ich werde auch mit jeder Lockerung vorsichtiger und isoliere mich mehr. Meine Lebensrealität hat mit der allgemeinen Stimmung nicht viel zu tun.
Am meisten beschäftigt mich derzeit, wie es mit der Risikogruppe weitergeht, wenn erst alle Schutzmaßnahmen aufgehoben wurden. Wenn die Kollegen wieder zur Arbeit gehen und die Freunde den Sommer genießen, während wir uns weiterhin isolieren müssen. Dann wird uns der Unterschied zwischen uns und unserem Umfeld plötzlich sehr bewusst. Im Lockdown waren alle gleich eingeschränkt, aber mit den Lockerungen entfernen wir uns immer weiter voneinander. Die Inklusion von chronisch Kranken und Schwerbehinderten macht krasse Rückschritte durch Corona.
Was denken Sie, wenn Menschen sagen, sie fühlten sich durch die Corona-Regeln fremdbestimmt und in ihrer Freiheit eingeschränkt?
Ich weiß, dass die Menschen es ernst meinen, wenn sie so etwas sagen, aber es fällt mir schwer, ehrliches Mitgefühl zu zeigen. „Fremdbestimmt“ hat für mich eine andere Bedeutung, ich habe es bislang nur von Schwerkranken gehört. Ich hoffe, diese Leute würden das nicht tatsächlich jemandem ins Gesicht sagen, der pflegebedürftig ist, seit Monaten im Krankenhaus liegt, im Rollstuhl sitzt oder mehrmals die Woche zu Dialyse, Chemotherapie oder Bestrahlung muss. Ein Blick auf andere Länder müsste reichen, um über die milde Kontaktsperre in Deutschland erleichtert zu sein.
Was würden Sie jemandem sagen, der überlegt, auf eine Corona-Demo zu gehen?
Ich verstehe, dass die Einschränkungen vielen Menschen Probleme bereiten und die Situation sie verunsichert. Aber ich finde bereits die grundsätzliche Haltung gegen Schutzmaßnahmen problematisch, nicht nur für den Infektionsschutz. Die Demos verbreiten rechtes Gedankengut nicht nur, weil rechte Gruppen dabei sind.
„Wieso soll sich die ganze Gesellschaft diesen Regeln unterwerfen und den wirtschaftlichen Schaden hinnehmen, nur um ein paar Wenige zu schützen? Die sind doch eh schon alt und krank.“ Solche Ansichten sind leider erschreckend weit verbreitet. Immer wieder höre ich Argumente, die mich stark an das Weltbild der Nationalsozialisten erinnern. Menschen wie mir wird nach dieser Logik ein geringerer Wert zugestanden als gesunden Menschen. Dabei haben junge Risikopatienten meist viel hinter sich. Sie haben Geduld und Leidensfähigkeit gelernt und ihren eigenen Strategien entwickelt, mit Krisen umzugehen.
Aufgezeichnet von Rebecca Häfner