Marburger erforschen neues Krankheitsbild

Gegen die Trauer hilft keine Pille

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Wenn ein geliebter Mensch stirbt, trauern die Hinterbliebenen. Einige finden nur schwer wieder zurück in ihr Leben und stecken in der Trauer fest. Lange sprachen Ärzte dann von Depressionen. Jetzt weiß man: Trauer ist eine eigene Krankheit. Sie wird nun in Marburg erforscht.

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Bild © Tatiana Syrikova / Pexels
Uni Marburg erforscht Trauerstörung02:30 Min. | 22.05.20 | Rebekka Dieckmann

Als Werner* seinen letzten Atemzug macht, geht auch in Inge* etwas zu Ende. Ein Jahr lang hat sie ihn durch qualvolles Leiden hindurch gepflegt und begleitet, während der Speiseröhrenkrebs seinen Körper immer weiter zerfraß. Als Werner schließlich kurz vor Weihnachten stirbt, ist Inge an seiner Seite. Das erste Mal überhaupt sieht sie, wie ein Mensch für immer seine Augen schließt. Und sofort kommt ihr ein Gedanke in den Kopf, der lange Zeit nicht mehr weggehen wird: Jetzt bin ich alleine, nach 25 Jahren zu zweit. Was mache ich jetzt?

Inge stellt fest: Die treibende Kraft in ihrem gemeinsamen Leben war oft Werner. Werner, der Abenteurer und Macher, der immer neue Ideen hatte. Bis zu seinem Tod hatte er noch Pläne geschmiedet - und sogar darüber hinaus: Er wollte eine Seebestattung haben, im Mittelmeer, wo er am liebsten mehrere Monate im Jahr gelebt hatte.

Stört es jemanden, wenn ich jetzt auch weg bin?

Inge erfüllt seinen letzten Wunsch. Aber als nach ein paar Wochen die Asche zwischen zwei griechischen Inseln verstreut ist, verfliegen auch die weiteren Pläne für ihr Leben. Ab jetzt weiß sie nicht mehr weiter. Je mehr sie realisiert, wie endgültig Werners Tod ist, desto unsicherer wird sie über ihr eigenes Leben. Sie fragt sich: Kann ich überhaupt irgendwas alleine? Auf einmal macht ihr alles Angst, sogar das Autofahren oder Telefonieren.

Immer wieder versinkt sie in den Erinnerungen. Sie blättert durch Fotos, will mit anderen über Werners letzte Wochen sprechen. Nach ein paar Monaten denkt sie, dass sie den Freunden bestimmt auf den Geist geht mit ihrer Traurigkeit. Sie sehnt sich nach Kontakt, will reden, aber auch nicht der ewige Trauerkloß sein. Sie fühlt sich immer weiter innerlich isoliert - nicht nur von Werner, sondern vom ganzen Leben.

Irgendwann fragt sie sich: Würde es jemanden stören, wenn ich jetzt auch weg wäre?

Gegen die Trauer hilft keine Pille

Die Zeit heilt Inges Wunden nicht. Eigentlich wird die Trauer immer nur schlimmer, denkt sie nach ein paar Monaten. Sie vertraut sich ihrer Hausärztin an. Die vermutet eine Depression und schlägt ein Medikament vor. Aber es hilft nicht. Werner ist weg, diese Trauer kann keine Pille nehmen. Stattdessen leidet Inge unter den Nebenwirkungen des Antidepressivums. Undeutlich sprechen, ständig Kopfschmerzen - das bin ich doch gar nicht mehr selber, denkt sie sich und setzt das Medikament ab.

Die Ärztin rät Inge schließlich zu einer Gesprächstherapie. In der Psychotherapie-Ambulanz der Philipps-Universität Marburg stellen die Ärzte fest: Inge ist gar nicht depressiv. Die Trauer macht sie krank. Sie leidet unter einer "Anhaltenden Trauerstörung", die nach einem Verlust etwa fünf Prozent aller Hinterbliebenen trifft. Die Krankheit wird derzeit in Marburg erforscht, ist aber bisher weitgehend unbekannt.

Marburger Studie erforscht junges Krankheitsbild

Erst 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Anhaltende Trauerstörung in ihren Krankheitskatalog aufgenommen. Die Grenze, wann "normale Trauer" zur Krankheit wird, ist nicht ganz einfach zu ziehen, erklärt die Marburger Psychologin Judith Gonschor, die das Forschungsprojekt PROGRID der Psychotherapie-Ambulanz in Marburg koordiniert.

Die WHO nennt als Kriterium etwa ein "starkes Verlangen nach dem Verstorbenen", begleitet von starkem emotionalem Schmerz. Dazu könnten etwa Wut oder Schuldgefühle zählen. Ebenso sei möglich, dass Betroffene Schwierigkeiten haben den Tod zu akzeptieren. Auch das Gefühl, einen Teil von sich selbst verloren zu haben, sei möglich.

Das Gefühl, wie eingefroren zu sein

All das gehöre auch zum Spektrum einer normalen Trauerreaktion, wie sie fast jeder im Laufe seines Lebens irgendwann einmal erlebe, so Gonschor. Man wolle die Trauer auf keinen Fall pathologisieren, also per se als krank darstellen. Man habe jedoch festgestellt: Während erstaunlich viele Menschen auch nach schweren Verlusten mit der Zeit wieder in ihr Leben zurückfinden, leiden etwa fünf Prozent der Hinterbliebenen dauerhaft so sehr darunter, dass sie im Alltag stark eingeschränkt sind und quasi in der Trauer feststecken.

"Manche beschreiben es so, dass der Verlust alles einnimmt oder sie das Gefühl haben, wie eingefroren zu sein." Wichtig sei auch, dass diese Symptome über einen langen Zeitraum andauerten. Wie lange, das sei individuell verschieden - doch frühestens sechs Monate nach dem Verlust könne man überhaupt eine Diagnose stellen.

"Das Ziel ist nicht, dass die Trauer weggeht"

Dass man eine derartige Trauerstörung anders psychologisch behandeln muss als eine Depression, sei inzwischen bekannt, erklärt Judith Gonschor. So habe man etwa festgestellt, dass Antidepressiva häufig nicht wirkten. Auch die Zielsetzung sei ganz anders: "Während man bei der Behandlung von Depressionen ja tatsächlich erreichen will, dass die depressiven Symptome weggehen, ist das Ziel bei einer Trauerstörung nicht, dass die Trauer weggeht." Das wäre auch unrealistisch, erklärt die Psychologin.

"Es wird meistens so sein, dass ein Verlust immer schmerzhaft bleibt. Nur ist die Frage: Wie viel Platz bekommt dieser Schmerz in meinem Leben?“, so Gonschor. Es gehe deshalb darum, die Trauer als Teil des Lebens zu integrieren, der aber nicht mehr ganz so riesig sei. "Es geht also darum, das Leben weiter zu gestalten - mit der Trauer."

Neue Ziele setzen

Der Tod von Werner liegt zweieinhalb Jahre zurück. Inge war eine der ersten Studienteilnehmerinnen, sie hat ihre Therapie inzwischen abgeschlossen. Die Trauer ist dadurch nicht weg. Aber Inge hat inzwischen festgestellt, dass viele der lähmenden Selbstzweifel und Sorgen vor allem in ihrem Kopf real waren. Sie hat Wege gefunden, wieder auf Menschen zuzugehen und mit den schmerzhaften Erinnerungen an Werners Tod umzugehen.

Wenn sie Fotos anguckt, kommen manchmal immer noch die Tränen und die Sehnsucht hoch. Aber manchmal lächelt sie auch und sagt in Gedanken zu Werner: Ich mach das jetzt so wie ich will - auch wenn dir das vielleicht nicht passt. Denn sie hat sich neue Ziele gesetzt. Zum Beispiel will sie wieder verreisen, aber am liebsten nach Nordeuropa oder an die Masurische Seenplatte nach Polen, wo ihre Mutter aufgewachsen ist. Werner wollte ja immer ans Mittelmeer.


Studienteilnehmer gesucht

In der aktuellen Studie PROGRID erforschen Marburger Psychologen derzeit mit drei weiteren Therapiezentren in Deutschland welche Therapie bei einer "Anhaltenden Trauerstörung" am besten funktioniert. Es werden zwei unterschiedliche Behandlungsansätze miteinander verglichen. Eine Therapie legt den Schwerpunkt auf die Trauer selbst, die andere soll Betroffenen dabei helfen, Alltagsprobleme zu bewältigen, die durch den Verlust entstanden sind. Die Behandlung umfasst etwa 20 Therapiestunden, die derzeit auch per Video durchgeführt werden. Die Studie läuft noch bis 2022. Momentan sind noch Plätze für Studienteilnehmer frei, Interessierte können sich bei der Marburger Ambulanz für Psychotherapie melden.


*Namen von der Redaktion geändert