Unions Bundesliga-Aufstieg 2019
Fünf eiserne Momente für die Ewigkeit
by Uri ZahaviPyro-Empfang, Achterbahnfahrt und eine ganz spezielle Frisur: Mit dem 27. Mai 2019 verbinden viele Union-Fans eine besondere Geschichte. Der Tag, an dem ihr Verein erstmals in die Bundesliga aufstieg, bleibt unvergessen. Von Uri Zahavi
"Wie gut, dass sich unser Busfahrer hier auskennt", twitterte der 1. FC Union Berlin anderthalb Stunden vor Beginn des Relegations-Rückspiels gegen den VfB Stuttgart am 27. Mai 2019. Der augenzwinkernde Satz bezieht sich auf ein dazugehöriges Video, und was zu sehen (oder eben nicht zu sehen) ist, wird Fußballliebhaber an Szenen aus Südeuropa oder Südamerika erinnern: Tausende Fans der Köpenicker bilden auf dem Parkplatz vor dem Stadion An der Alten Försterei ein Spalier, um ihr Team - noch im Mannschaftsbus sitzend - in Empfang zu nehmen und Richtung Aufstieg zu pushen. Dabei zünden sie rote Fackeln, Pyro und Feuerwerk. Der Bus ist gänzlich in Rauch gehüllt. Inbrünstige "Eisern Union"-Sprechchöre verleihen der Ankunft auch eine akustische Wucht. Der Bus manövriert sich - fast schon elegant anmutend - durch die Rauchwand hin zur Arena. Es ist der Beginn eines Tages, den in Köpenick viele nicht vergessen werden.
Als das Unioner Herz vorübergehend schmerzte
Die Aufstiegssaison des 1. FC Union war eine Achterbahnfahrt. Am 34. und somit letzten Spieltag verpassten die Berliner den direkten Aufstieg - ein Sieg beim VfL Bochum hätte gereicht. Doch, es wurde letztendlich nur ein 2:2, das vielen Unionern kurzzeitig das Herz brach. Apropos Herzschmerz: Der durchzuckte die Fangemeinde auch in der neunten Minute des Relegations-Rückspiels gegen den VfB Stuttgart.
Das Hinspiel vier Tage zuvor war 2:2-Unentschieden geendet, der Bundesligist aus Schwaben brauchte dringend ein Auswärtstor. Als Linksverteidiger Dennis Aogo sich in 19 Metern Torentfernung den Ball zurechtlegte, anlief und die Kugel ins linke obere Toreck schlenzte, da schwieg das Stadion An der Alten Försterei. Viele der 22.012 Anwesenden hatten rote T-Shirts an. "Nehmt Euer Herz in beide Hände" war auf ihnen zu lesen - vor Anpfiff war der Slogan auch als überdimensionale Choreo auf der Waldseite zu sehen.
Der kleine Riss, der in dieser neunten Minute durch die Unioner Herzen ging, er heilte glücklicherweise schnell. Dafür verantwortlich zeichnete sich ein stiller, eiserner Aufstiegs-Held, der ohne es zu wollen in diesen Sekunden geboren wurde: Nicolás González. Der argentinische Stürmer der Stuttgarter kam auf die glorreiche Idee, während des Aogo-Freistoßes meterweit ins Abseits zu laufen. Und FCU-Keeper Rafal Gikiewicz dabei auch noch die Sicht zu versperren. Nach Videobeweis entzog Schiedsrichter Dingert dem Führungstreffer die Gültigkeit und das Eiserne Herz war wieder ganz.
22:28 Uhr
Alle Fernseh-, Zeitungs- und Online-Berichte zu durchforsten, in denen an diesem magischen Aufstiegsabend die Uhrzeit 22:28 Uhr auftaucht, würde sehr, sehr lange dauern. Es ist die Minute, in der der Unparteiische Christian Dingert Union Berlin erstmals in der Vereinsgeschichte in die Fußball-Bundesliga pfiff. Wer die Szenen, die sich auf dem Rasen der Alten Försterei nach dem Schlusspfiff abspielten, als emotional beschreibt, der untertreibt - maßlos. Fernab des obligatorischen Platzsturms, der Bierduschen, der "Nie mehr zweite Liga"-Gesänge und Umarmungsarien, entlud sich die Freude eines gesamten Vereins. Erwachsene Menschen saßen auf ihren Plätzen und weinten hemmungslos. Es war eine Mischung aus ohrenbetäubender Freude und geräuschloser Erleichterung.
Vom heiligen Rasen blieb am Ende jener Nacht nicht mehr viel übrig. Jeder Augenzeuge wollte ein Stück Geschichte mit nach Hause nehmen. Auf die Frage "Wo warst Du in der Sekunde, als Union Berlin in die Bundesliga aufgestiegen ist?" hat Präsident Dirk Zingler die wohl spektakulärste Antwort: Er befand sich um 22:28 Uhr auf der Toilette.
Schnipp. Schnapp.
"Raaaasieren. Raaaasieren. Raaaasieren", schallte es aus den Stadionboxen der Alten Försterei. Normalerweise sind Stadiondurchsagen das Hoheitsgebiet von Union-Pressesprecher Christian Arbeit - aber wirklich nichts an diesem Abend war normal. Wie noch häufiger in den folgenden Tagen hatte sich Sebastian Polter, bekleidet in einer Kutte aus Jeansstoff, das Mikro geschnappt. Der Stürmer stand auf dem Dach der Ersatzbank und zitierte eben jenen Christian Arbeit zu sich.
Hach ja, die Wetterei ist so eine Sache. Kurzer Rückblick: Im Januar 2019 hatte Arbeit im Wintertrainingslager in Spanien Union-Anhängern versprochen, bei einem Eisernen Aufstieg seine schulterlangen Haare abzurasieren. Seine Mähne war jahrelang sein Markenzeichen. Aber Wettschulden sind bekanntermaßen Ehrenschulden und so wurde Sebastian Polter noch an Ort und Stelle ein Rasierer gereicht - und unter tosendem Jubel und auch dezentem Gelächter der Fanmassen, nahm der wahrscheinlich außergewöhnlichste Friseurbesuch im Leben des Christian A. seinen Lauf. "Der Aufstieg war mir unfassbar viel wert", erzählte Arbeit später dem rbb. Daran bestand spätestens beim Anblick seines kahlen Kopfes nicht mehr den Hauch eines Zweifels.
Walk of Fame
Der "Walk of Shame" ist negativ konnotiert. Der Begriff beschreibt den "Gang des Schames" nach Hause, im Anschluss an eine durchzechte Partynacht oder einen One-Night-Stand. Oft führt der Weg vorbei an fremden Leuten, die den "Walker" herablassend und mit ein wenig Ekel beäugen. Soweit, so klar. Aber was ist jetzt eigentlich das Gegenteil des "Walk of Shames"? Der "Walk of Fame", vielleicht?
Den gönnten sich einige Unioner Kicker am Morgen nach dem Aufstiegstriumph. Die Uhrzeit: ca. sechs Uhr früh. Die letzten der eisernen Feierbiester torkelten aus dem Stadion An der Alten Försterei - mehr oder weniger bekleidet. Glückselig, freudetrunken, lauthals singend und - nennen wir es mal angeschwipst - machten sie sich zu Fuß auf den Weg ins Bett. Partyoberhaupt Sebastian Polter gab später zu Protokoll, "er könne sich an nichts mehr erinnern". Hoffen wir, dass das nicht stimmt. Dann wären viele unvergessliche Momente verloren. Ganz zum Schluss gekrönt mit dem "Walk of Fame".
"Nie wieder zweite Liga"
Sendung: Inforadio, 27.05.2020, 08:15 Uhr