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Matthias Egger – Leiter Swiss National Covid-19 Science-Taskforce.Bild: KEYSTONE

Corona-Taskforce-Chef warnt: «Mit Massenveranstaltungen muss man noch zuwarten»

Am Mittwoch entscheidet der Bundesrat über weitere Lockerungen der Coronavirus-Massnahmen in der Schweiz. Matthias Egger, Chef der Task Force Covid-19, erachtet Abstands- und Hygieneregeln weiterhin als zentral. Bei Grossveranstaltungen sei die Einhaltung jedoch nicht möglich.

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Interview

Zu Beginn der Coronavirus-Krise wurde kritisiert, der Bund habe zu wenig auf die Wissenschaft gehört. Hat sich das verändert?
Matthias Egger:
Die Wissenschaft findet jetzt ganz sicher Gehör. Das heisst aber nicht, dass unsere Empfehlungen immer eins zu eins umgesetzt werden, das ist klar. Aber sie werden von der Politik in Betracht gezogen. Das ist aber erst so, seit es die Science Task Force gibt.

Die von der Task Force berechnete Reproduktionszahl liegt schon seit dem 22. März unter 1: Ein Infizierter steckt weniger als eine Person an. Hätte man nicht früher mit den Lockerungen beginnen können?
Mit dem Lockdown hat man Mitte März viele Einrichtungen und Aktivitäten gleichzeitig geschlossen und beendet. Aus wissenschaftlicher Sicht hätte man die Öffnungen im Gegensatz dazu früher gestaffelt ausführen können, um die Effekte zu analysieren und dann den nächsten Schritt zu machen. Diese Option wäre aber aus politischen Gründen schwierig durchzusetzen gewesen. Warum dürfen die und nicht wir, hätte es dann geheissen. Die Gleichbehandlung spielt auch eine Rolle bei solchen Entscheidungen. Die Politik kann sich nicht nur nach der wissenschaftlichen Empfehlung richten.

Die Zahl der Neuinfektionen ist trotz Lockerung nicht gestiegen. Könnte man die Lockerungen nicht beschleunigen?
Die aktuelle Reproduktionszahl von 0,7 bezieht sich auf den 14. Mai, also nur drei Tage nach der grossen Lockerung am 11. Mai. Die heute bekannte Reproduktionszahl hinkt immer zehn Tage hinterher, weil erst dann alle Daten zu ihrer Berechnung zur Verfügung stehen. Wie viele Menschen sich heute anstecken, können wir somit erst in zehn Tagen sagen. Aufgrund von drei Tagen kann man noch keine Aussagen zu einer möglichen Zunahme der Infektionen machen.

Am 8. Juni soll auch der Tourismus in der Schweiz wieder freie Hand haben. Welche Effekte könnte das haben?
Vor dem 8. Juni werden wir wirklich sehen, welche Auswirkungen die Lockerungen vom 11. Mai hatten. Sind wir dann wieder bei einer Reproduktionszahl über 1 – was ich nicht erwarte – wird man die geplanten Lockerungen nochmals überdenken müssen.

Was bedeutet das?
Dass man nicht weitere Lockerungen einführt, sondern die bestehenden konsolidiert. Dass man die Bevölkerung nochmals auf die weiterhin wichtigen Hygiene- und Distanzmassnahmen aufmerksam macht und die Kommunikation intensiviert. Man sollte auch genau hinschauen, wo es zu Ausbrüchen gekommen ist. Daraus könnte man gezielt regionale Massnahmen ableiten. Viele Regionen der Schweiz werden nicht betroffen sein. Gewisse Lockerungen, zum Beispiel im Tourismus, könnte man dann trotzdem ermöglichen.​

Matthias Egger – Leiter Swiss National Covid-19 Science-Taskforce
Matthias Egger ist Direktor des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern und Professor für Epidemiologie an der Universität Bristol. Der in Bern geborene 63-jährige Epidemiologe ist Präsident des Nationalen Forschungsrats des Nationalfonds und nun Leiter der Swiss National Covid-19 Science-Taskforce. Er leitet zehn Expertengruppen, die jede Woche an Sitzungen mit dem Krisenstab des Bundesrats zusammenkommen, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit dem Bundesamt für Gesundheit und auch mit Bundesrat Alain Berset zu diskutieren. Die Taskforce veröffentlicht auch kurze Zusammenfassungen ihrer Arbeit für das allgemeine Publikum auf ihrer Website wie auch die Reproduktionsrate des Coronavirus.

Die Leute wollen zurück zur Normalität. Die Disziplin wird weiter nachlassen.
Tatsächlich sieht man Anzeichen, dass sich die Leute nun zum Teil weniger an die Regeln halten. Zum Beispiel in Lausanne an diesem illegalen Fussballspiel. Dass es nicht gut ist, wenn viele Leute zusammenkommen, hat ein Gottesdienst in Deutschland in Erinnerung gerufen, der zu einem grossen Ausbruch geführt hat. Mit Massenveranstaltungen muss man noch zuwarten.

Was kann der Bund tun, wenn die Disziplinlosigkeit zunimmt?
Überzeugungsarbeit leisten. Wir müssen einen Weg finden, das Virus unter Kontrolle zu halten und das Leben zu geniessen. Es ist im Interesse von allen, wenn die Fallzahlen tief und die Reproduktionszahl unter 1 bleiben. So dass wir weitere Lockerungen in Betracht ziehen können. Mit den Veranstaltern illegaler Massenveranstaltungen muss man den Dialog suchen. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hält sich in meiner Wahrnehmung nach an die Massnahmen. Das sieht man auch in den Restaurants.

In Erinnerung bleibt, dass ein Epidemiologe in der Schweiz 30000 Corona-Tote vorausgesagt hat, davon sind wir weit entfernt. Sind die Epidemiologen generell zu vorsichtig?
Diese Schätzung wurde gemacht in der Annahme, dass der Bund keine Massnahmen trifft. Wäre das so gewesen, wäre die Prognose wohl eingetroffen. Die Massnahmen haben gewirkt. Ab Mitte März sind die Zahlen bei uns gesunken.

Schweden hat immer noch etwa 500 neue Fälle pro Tag und 50 Tote.

Die Task Force hat das Vorgehen der beiden Länder Schweiz und Schweden verglichen. Wie lautet die Bilanz?
Die Schweiz hat das besser gemacht. Sie hat entschieden reagiert und so die Fallzahlen runtergebracht. Und dabei hat sie wirtschaftlich wahrscheinlich keinen grösseren Schaden erlitten als Schweden wie unsere Analyse zeigt. Ich denke auch für Schweden können täglich viele Corona-Tote kein längerfristiges Szenario sein. Das verunsichert die Menschen und drückt auf das Konsumverhalten.

Lässt sich denn wissenschaftlich überhaupt eruieren, was die Massnahmen gebracht haben?
Die geschätzte Reproduktionszahl lag am Anfang bei etwa 3. Jeder Infizierte hat wahrscheinlich drei Menschen angesteckt. Da kann man leicht durchrechnen, dass es ohne Massnahmen zu einer Katastrophe gekommen wäre. Die Spitäler wären überlastet gewesen und es hätte viele Todesfälle gegeben. Aber das ist ein theoretisches Szenario, weil sich die Menschen bereits vor den Massnahmen anders verhalten haben. Die Bilder aus Norditalien haben schockiert. Dies führte zu einer ersten Reduktion der Reproduktionszahl. Massnahmen hätten aber auf jeden Fall ergriffen werden müssen. Und rückblickend wäre es natürlich besser gewesen, man hätte vorher damit begonnen.

Die Schulschliessungen haben aber nichts gebracht.
Die Schulschliessungen waren wahrscheinlich nicht die wichtigste Massnahme, aber die Schliessung während dem starken Anstieg der Fallzahlen war sinnvoll. Vielleicht hätte man die Schulen auch früher aufmachen können. In Schweden hat sich gezeigt, dass die Schulen keine wichtige Rolle in den Übertragungsketten spielen. Auch in Dänemark hatte die frühere Öffnung der Schulen keinen wichtigen negativen Effekt. Hier besteht aber noch einige Unsicherheit und weitere Studien sind nötig.

Kann man schneller lockern, wenn man die Abstand- und Hygieneregeln einhält?
Absolut. Mit den Abstands- und Hygieneregeln hat man mehr als die halbe Miete bezahlt. Damit sollte es längerfristig möglich sein, die Reproduktionszahl unter 1 zu halten.

Bei Grossveranstaltungen kann man diese Regeln nicht einhalten.

Es müsste doch möglich sein, Veranstaltungen durchzuführen, an denen sich 3000 oder mehr Menschen nicht zu nahe kommen.
Das ist theoretisch möglich, aber in der Praxis schwierig durchzusetzen. Ich will das nicht ausschliessen. Aber da bin ich skeptisch.

Welchen Effekt erwarten Sie durch die Grenzöffnungen?
Die Task Force ist dabei, ein Papier zu den Grenzöffnungen und den begleitenden Massnahmen zu schreiben. Schutzmassnahmen sind in diesem Zusammenhang auf jeden Fall sinnvoll.

Was muss geschehen, damit wir uns wie früher verhalten können?
Das hängt davon ab, ob wir einen Impfstoff bekommen oder wirksame Therapien gegen Covid-19, die das Ausbrechen der Krankheit verhindern. Momentan sieht es aber so aus, als müssten wir eine neue Normalität finden und bis auf weiteres mit diesem Virus leben – mit gewissen Einschränkungen, um die Fallzahlen tief zu halten.

Sind wir mit den Impfstoffen auf einem guten Weg?
In der Schweiz und international sind erfolgsversprechende Impfstoffe in der Entwicklung. Aber es besteht noch einige Unsicherheit, ob wir bald einen wirksamen und sicheren Impfstoff haben werden. Einiges dämpft den Optimismus. Zum Beispiel, dass wir gegen die bekannten, harmlosen Erkältungs-Coronaviren, die uns jeden Winter beschäftigen, keine anhaltende Immunität entwickeln. Und dass es sich zeigt, dass vielleicht nur schwer erkrankte Corona-Patienten eine langfristige Immunität entwickeln, nicht aber jene, die nur milde Symptome hatten. Optimistischer stimmt mich die Tatsache, dass ein Corona-Impfstoff nicht einen 100-prozentigen Schutz bieten muss. Wenn er 50 Prozent wirksam ist könnte die Impfung bereits einen wichtigen Beitrag leisten. Idealerweise würde er etwa 70 Prozent Schutz bieten. Es sind einfach noch viele Fragen offen und es ist unsicher, ob wir in einem Jahr eine Impfung haben werden.​

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Die Entwickler wollen praktische Erfahrungen sammeln und die App verbessern, bevor sie Ende Juni lanciert werden soll. Zuvor muss allerdings noch das Eidgenössische Parlament die gesetzlichen Rahmenbedingungen festlegen. Unter anderem ist ein Diskriminierungsverbot vorgesehen.
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