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Kinder finden ihre eigenen Gefühle in Geschichten wieder und lernen sie so besser verstehen.© Getty

Ohne mein Buch geh ich nirgendwo hin: Heute ist der nationale Vorlesetag!

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Beim Geschichtenerzählen bekommen Kinder ein Gefühl für Sprache – und noch einiges mehr. Ein Sofa braucht es dafür übrigens nicht. Der heutige Vorlesetag 2020 ist eine besonders gute Gelegenheit dazu.

Es ist laut, gefrässig, fröhlich und der Held meiner Kindheit. Bis heute, mehr als vierzig Jahre nach unserer ersten Begegnung in einer eher öden Handarbeitsstunde – ich mühte mich mit einer Häkelnadel und ungeschickten Händen an einem Topflappen aus Baumwollgarn ab –, begleitet mich das Sams aus Paul Maars lustig-subversivem Roman «Eine Woche voller Samstage» durchs Leben. Nicht etwa deshalb, weil es dauernd unverschämte, frech gereimte Lieder singt und seinem Besitzer jeden noch so verrückten Wunsch erfüllt. Entscheidender war wohl die Tatsache, dass es sich überhaupt in den muffigen Handarbeitsraum verirrt hatte: als magisches Wesen aus einem Buch, welches die Lehrerin Woche für Woche mitbrachte, um daraus vorzulesen.

Sie machte nicht viel Aufhebens und keine grosse Leseshow. Sie hatte keine wohltönende Stimme, dafür einen recht herben schwäbischen Akzent. Der gute Wille, es zu trotzdem zu tun, Verlässlichkeit und Ausdauer genügten vollauf. Behaglich war das, zum Lachen und Mitfiebern; die richtige Geschichte zur rechten Zeit.

Durch das Sams wurde ich zwar nicht vorlaut und erfrischend frech, aber zur Leserin – und später dann zur überzeugten Vorleserin, die ich noch immer bin. Es erfüllte mir keine speziellen Wünsche, öffnete jedoch das Tor zu einer Welt wunschlosen Glücks.

Digitaler Ersatz und analoge Freuden des Lesens

Solche Schlüsselerlebnisse will auch der nationale Vorlesetag 2020 schaffen. Geplant waren für heute zahlreiche öffentliche Lesungen: mit Freiwilligen, die sich vorab als Vorleser in örtlichen Schulen, Bibliotheken oder anderen geeigneten Räumen melden konnten, oder mit prominenten Lesepaten. Online werden sie nun im Halbstundentakt auf Youtube lesen – bekannte TV-Gesichter wie Christa Rigozzi und Nik Hartmann, Schauspielerinnen, Musiker, Sportler oder Wortakrobatinnen wie Patti Basler.

Das ist ein schönes Zeichen, doch Kinder brauchen mehr davon, und das nicht nur bis zu dem magischen Moment, in dem sie Buchstaben entziffern und daraus Wörter zusammensetzen können. Gerade über die Zeit, in der sie sich noch mit Sätzen wie «Klaus baut ein Haus» plagen, trösten ausdauernde Vorleserinnen und Vorleser zu Hause und in der Schule hinweg: indem sie den kindlichen Wissensdurst und den Geschichtenhunger stillen.

Der Vorlesetag soll aber vor allem Eltern, Grosseltern und alle, die Zeit mit Kindern verbringen, zum gemeinsamen Schmökern anstiften. Aus den bekannten guten Gründen:

Weil Vorlesen Beziehung und Nähe schafft, eine freundliche Atmosphäre der Geborgenheit, die kein Bildschirm der Welt herstellen kann.

Weil es den kindlichen Wortschatz erweitert, beim Lesenlernen hilft, ein Gefühl für Sprache und Grammatik vermittelt.

Weil Kinder beiläufig lernen, wie eine gute, spannende Geschichte aufgebaut sein muss.

Weil sie aus Büchern Wissen schöpfen über die Menschen und die Welt.

Weil sie sich selbst und ihre Gefühle darin wiederfinden, sich und andere besser verstehen lernen.

Es macht aber schlicht und einfach auch Spass, gemeinsam zu lesen. Es holt Figuren in den Kinderalltag, die treue Freunde werden. Es verbindet Familien, oft auf lange Sicht. Bestenfalls genügt noch viele Jahre später ein einziges Stichwort, eine Anspielung zwischen zwei Sätzen, um einen ganzen Kosmos heraufzubeschwören: ob nun die Drachenstadt, in die sich Jim Knopf und Lukas wagen, ob Hogwarts oder die Ferieninsel Saltkrokan, ob Sofies Welt oder den Hundertmorgenwald von Winnie Pu. Man benötigt für dieses Abenteuer und das nachhaltig gute Gefühl dabei keine Geräte und keinen Strom, auch keine besondere Gelegenheit, weder öffentliche Aktionen noch Events.

Gute Vorsätze sind das eine. Sie im chaotischen oder viel zu verplanten Alltag einzuhalten, kann aber eine Herkulesaufgabe sein. Feste Rituale helfen, etwa die bewährte Gutenachtgeschichte.

Ich habe in Wartezimmern vorgelesen (und andere fiebrige Kinder mitbeglückt), neben der Badewanne, in der zwei kleine Mädchen Schaumburgen bauten und sich Barockfrisuren machten. Das eine oder andere Buch fiel beim Bilderanschauen ins Wasser.

War keines zur Hand, tat es notfalls auch der «Schauplatz» in der Tageszeitung oder der Wetterbericht. Doch eine Geschichte musste sein, mehrmals täglich. Das ist noch heute so für meine Töchter im Teenie-Alter, in dem die wichtigsten Storys bekanntlich auf Snapchat oder Instagram stehen. Ihre Helden von gestern sind nicht gestorben. Sie leben noch und bleiben unsichtbare Begleiter.

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