Amnesty: Ohne Hilfe Nigerias Kinder "verlorene Generation"
Verschleppungen, willkürliche Inhaftierungen, Folter und sexueller Missbrauch: Ein neuer Bericht der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" dokumentiert die Situation von Kindern während des anhaltenden Konflikts zwischen der Terrormiliz Boko Haram und der nigerianischen Armee und warnt vor einer "verlorenen Generation".
Unter dem Titel "'We dried our tears': Addressing the toll on children of Northeast Nigeria's conflict" zeigt der am Mittwoch vorgestellte Bericht, wie Kinder zusätzliches Leid durch das Militär erfahren, nachdem sie bereits Opfer von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Boko Haram geworden sind. Zwischen November 2019 und April 2020 hat Amnesty mehr als 230 von dem Konflikt betroffene Menschen interviewt, darunter 119, die als Minderjährige Opfer von Boko Haram, der Armee oder beiden wurden. Zu ihnen gehörten 48 Kinder, die monate- oder sogar jahrelang in Militärgewahrsam gehalten worden waren, sowie 22 Erwachsene, die zusammen mit Kindern inhaftiert waren.
Zu den Taktiken von Boko Haram zählen Angriffe auf Schulen, die Verschleppung von Kindern, die Anwerbung und der Einsatz von Kindersoldaten sowie die Zwangsverheiratung von Mädchen und jungen Frauen. Tausende Kinder sollen verschleppt worden sein. Ein Beispiel ist die Entführung Hunderter Schülerinnen in Chibok im Jahr 2014.
Konnten Kinder einmal aus Boko-Haram-Gebieten entkommen, sind sie aber nach den Untersuchungen von Amnesty oft mit weiteren Menschenrechtsverletzungen durch die Armee konfrontiert: Einige würden jahrelang rechtswidrig in Militärkasernen inhaftiert, gefoltert und misshandelt, bis sie "zugeben", eine Verbindung zu Boko Haram zu haben. Immer noch befänden sich viele Kinder unter diesen Bedingungen in Haft, Amnesty geht davon aus, dass während des Konflikts mindestens 10.000 Menschen, darunter zahlreiche Kinder, in der Haft gestorben sind.
Amnesty hat auch mit Mädchen und jungen Frauen gesprochen, die als Minderjährige von Boko-Haram-Kämpfern zur Ehe gezwungen worden waren. Die meisten von ihnen gaben an, von der Regierung wenig bis gar keine Unterstützung bei der Rückkehr in die Schule, bei der Existenzgründung oder beim Zugang zu psychosozialer Betreuung erhalten zu haben.
Auch im Zusammenhang mit dem millionenschweren Resozialisierungsprogramm "Safe Corridor", das von der EU, Großbritannien, den USA und anderen Staaten finanziert wird, ortet Amnesty Verstöße: In einem vom Militär geführten Haftzentrum, in dem mutmaßliche Boko Haram-Kämpfer und -Unterstützer entradikalisiert und resozialisiert werden sollen, hätten die meisten der Männer und Burschen weder Zugang zu Rechtsbeständen noch zu Gerichten, in einigen Fällen sei der vereinbarte sechsmonatige Aufenthalt auf 19 Monate verlängert worden. Inhaftierte seien gestorben, weil sie keine angemessene medizinische Versorgung erhalten hätten.
"Die Streitkräfte Nigerias müssen dringend alle Minderjährigen freilassen, die willkürlich festgehalten werden", verlangte Osai Ojigho, Direktorin von Amnesty International in Nigeria, anlässlich der Veröffentlichung des neues Berichts: "Weitere Menschenrechtsverletzungen, die scheinbar darauf abzielen, Tausende Kinder zu bestrafen, müssen eingestellt werden!" Außerdem müsse eine ganze Generation von Kindern dringend Schutz und Zugang zu Bildung erhalten. "Die nigerianischen Behörden werden für eine verlorene Generation verantwortlich sein, wenn sie sich nicht umgehend um Tausende traumatisierte Kinder kümmern, die von dem Konflikt betroffen sind", sagt Joanne Mariner, Expertin für Krisenarbeit bei Amnesty International.