Digitale Revolution
Meeting in 3D – diese Chancen bietet Virtual Reality in Corona-Zeiten
Gemeinsam forschen, planen, diskutieren: Virtual Reality ermöglicht das trotz Coronakrise. Bislang kommt die Technik aber nur in Nischen zum Einsatz.
by Larissa Holzki, Alexander DemlingSan Francisco, Düsseldorf. Bei Pfizer können Forscher um Moleküle herumlaufen. Ein Atom nehmen, es weglegen, ein anderes andocken. Und sich mit den Kollegen darüber unterhalten – egal, wo auf der Welt sie sich gerade befinden. Eine App namens Spatial ermöglicht solche Meetings in virtueller Realität.
Seit rund einem Jahr arbeitet das weltgrößte Pharmaunternehmen damit. Selbst die reine Kommunikation läuft nun besser, berichtet Nathan Yorgey: „In einer Videokonferenz mit mehr als fünf Personen unterbrechen sich alle gegenseitig. Niemand unterhält sich, im besten Fall redet einer und alle anderen hören zu.“
Yorgey ist Direktor für digitale Innovation bei Pfizer, ein Evangelist für neue Hardware, Software und Arbeitsweisen in dem Viagra- und Enbrel-Konzern. In Zeiten des Coronavirus erweist sich diese Mission als besonders wertvoll: Technologie ermöglicht die Zusammenarbeit trotz aller Ausgangssperren – auch Virtual Reality (VR), wie die Forscher sie nutzen.
Auch wenn sich in Deutschland und anderswo viele Büros langsam wieder füllen, werden sich Kollegen in Zukunft seltener in vollbesetzten Konferenzräumen begegnen – wegen des Ansteckungsrisikos, weil manche das Homeoffice während der Corona-Ausgangssperren schätzen gelernt haben oder weil Firmen in der Rezession versuchen werden, Bürofläche und -miete zu reduzieren.
Das könnte für Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) eine Chance sein: Videokonferenzen und Massentelefonate sind selten kollaborativ. Über ein physisches Objekt wie einen Gebäudeentwurf oder Karosserie-Design zu sprechen, ist erst recht schwierig. Virtuelle Räume, in die sich Nutzer mit ihren Datenbrillen begeben, versprechen räumliche Flexibilität und enge Zusammenarbeit zugleich.
Einige Unternehmen sehen darin die Zukunft der Arbeit – namentlich Facebook, das kürzlich in einem kurzen Video gezeigt hat, wie sich ein Büro eines Tages mithilfe einer Datenbrille aufrüsten lassen soll. Skeptiker weisen dagegen darauf hin, dass die Geräte trotz aller Fortschritte noch immer Nischenprodukte sind, privat wie in Unternehmen – und es dafür einen Grund gibt.
Ein dauerhafter Winter?
So sieht Benedict Evans die Technologie in einem dauerhaften Winter, dessen Ende nicht abzusehen ist. Der Brite ist nach Jahren als Partner des renommierten Risikokapitalgebers Andreessen Horowitz gerade zum britischen Konkurrenten Entrepreneur First gewechselt.
Er hat erlebt, wie Facebook das Hardware-Start-up Oculus für zwei Milliarden Dollar übernahm, um VR zur nächsten sozialen Plattform auszubauen. Wie das ambitionierte Start-up Magic Leap Milliarden Dollar einsammelte, auch von Andreessen Horowitz, um Hardware und Software für Verbraucher zu entwickeln.
Und er hat erlebt, wie nichts davon den Durchbruch für VR brachte. Immer waren die Geräte zu schwer, die Bedienung zu kompliziert, die Anwendungen zu bescheiden, als dass die Technologie so allgegenwärtig werden würde wie das Smartphone.
Sicher, es gibt einige Fortschritte: Facebook übernimmt vielversprechende Spielestudios, um Oculus endlich zum Durchbruch bei Endverbrauchern zu verhelfen. Gerade hat das Unternehmen offiziell die Betaphase der VR-Plattform „Oculus for Business“ abgeschlossen, in der ausgewählte Firmen mit der neuen Technologie etwa im Bereich der Mitarbeiterschulung experimentieren konnten.
Industriearbeiter nutzen die Hololens von Microsoft, um die Arbeitsschritte an ihren Maschinen zu lernen, das US-Militär kaufte dem Konzern zuletzt 40.000 Brillen mit Wärmebild-Kamera ab, um Soldaten im Feindesland etwa Karten oder einen Kompass einblenden zu können. Auch Apple hat seine Ambitionen in dem Bereich gerade erneut bewiesen: Der iPhone-Hersteller hat die Übernahme von NextVR bestätigt, einer Firma, die sich darauf spezialisiert hat, Konzerte und Sportveranstaltungen per Virtual Reality zu übertragen.
Doch genauso bezeichnend für den Zustand der Branche ist Magic Leap, das einst gehypte Start-up, das bislang nicht bei einem Großkonzern untergeschlüpft ist. Von seiner neuesten Brille soll das Unternehmen aus Florida nur magere 6000 Exemplare verkauft haben. Zuletzt machte das Unternehmen Schlagzeilen, weil es 1000 Mitarbeiter, die Hälfte seiner Belegschaft, entließ und der Vermieter seiner Niederlassung in Seattle es wegen Mietrückständen verklagte.
Dass es sich um eine Nische handelt, zeigen Zahlen: Der Marktforscher CCS Insight geht davon aus, dass der Absatz von VR- und AR-Brillen im vergangenen Jahr bei rund zehn Millionen Stück lag, ein Plus von rund 20 Prozent. Im gleichen Zeitraum verkauften die Smartphone-Hersteller rund 1,5 Milliarden Geräte.
Neue Realitäten
Virtual Reality (VR)
In andere Welten eintauchen – seit Jahrzehnten träumen Science-Fiction-Autoren davon. Seit einigen Jahren machen Geräte wie aktuell Oculus Quest das tatsächlich möglich. Die Brillengestelle enthalten kleine Bildschirme, die dem Nutzer eine künstliche Umgebung vorgaukeln, etwa in einem Computerspiel.
Augmented Reality (AR)
Als erweiterte Realität bezeichnet man Anwendungen, die virtuelle Informationen in die reale Umgebung projizieren. Das ist mit Datenbrillen, aber auch Smartphones oder Tablets möglich. Ihren ersten großen Moment erlebte die Technologie 2016 mit dem Spiel „Pokemon Go“, das Nintendo-Monster in der echten Welt verteilte.
Mixed Reality
Die Grenzen zwischen VR und AR sind unscharf, Mixed Reality beschreibt ein Zwischending. Wie in AR werden Objekte über die reale Umgebung gelegt, sie sind aber interaktiver und beispielsweise durch Gesten veränderbar. Microsoft nutzt diesen Begriff für die Hololens-Technologie.
Inzwischen vergleicht Evans VR-Enthusiasten, die den iPhone-Moment der Technologie immer kurz bevorstehen sehen, mit Kommunisten, die die bescheidene Realität ihrer Ideologie mit der immergleichen Ausrede erklären: „Echte VR“ sei einfach noch nicht ausprobiert worden. „Es sagt viel aus, dass wir alle zu Hause eingesperrt sind und Videotelefonate ein Massenphänomen geworden sind, aber VR nicht“, schreibt Evans in seinem vielbeachteten Newsletter. „Dies hätte ein VR-Moment sein sollen und es ist keiner.“
Das bewertet Facebook-Chef Mark Zuckerberg indes anders. „Dass wir auf Fernarbeit umgestellt haben, ermöglicht uns, einige Zukunftstechnologien zu verbessern, an denen wir arbeiten“, sagte er kürzlich den Mitarbeitern in einem Livestream mit Blick auf die eigenen Produkte.
Wie zum Beweis für diese Ausführungen ließ der Abteilungsleiter für VR und AR, Andrew Bosworth, am selben Tag seine Follower auf Twitter in die Zukunft der Arbeit schauen, wie sie dem Konzern vorschwebt: Er veröffentlichte ein achtsekündiges Video, das von einer Oculus-Brille aufgenommen wurde. Der Nutzer ordnet per Handgeste drei virtuelle Bildschirme vor sich an und beginnt dann, auf einer echten Tastatur zu tippen. Die Idee: In der gemischten Realität haben auch große Bildschirme im kleinsten Arbeitszimmer Platz.
Zuckerberg sieht binnen zehn Jahren 50 Prozent seiner Belegschaft dauerhaft außerhalb der Firmenbüros arbeiten. So könne das Unternehmen auch ein besseres Verständnis für Kunden entwickeln und den Stand der Technologie vorantreiben. Das von Bosworth gezeigte Beispiel illustriert das gut: In den großzügigen Büros von Facebook kämen Mitarbeiter möglicherweise gar nicht auf die Idee, die Zukunftstechnologie als Mittel zur Platzersparnis voranzutreiben.
Virtuelles Training für Pflegekräfte
Bei Spatial zeigen sich Coronaeffekte auch schon auf Kundenseite: Die Zahl der aktiven Nutzer sei seit Ausbruch der Corona-Pandemie um mehr als 1000 Prozent gestiegen, sagt Jacob Loewenstein, Head of Business des New Yorker Start-ups – und das schon, bevor das Unternehmen vor zwei Wochen entschied, die App für die nächsten Monate kostenlos anzubieten. Viele Krankenhäuser trainierten dort nun neue Pfleger, Studenten der Universität von Arizona treffen sich zu ihrem Kurs über Afrofuturismus in Spatial.
Doch Spatials Brot- und Buttergeschäft sind Großunternehmen: Jedes vierte Unternehmen der 1000 umsatzstärksten US-Unternehmen habe bereits Kontakt zu Spatial aufgenommen und Interesse an der App gezeigt, sagt Loewenstein. Ford, die Deutsche Telekom und der Chiphersteller Qualcomm seien bereits Kunden. Mattel designt analoges Spielzeug in virtuellen Werkräumen, die französische Großbank BNP Paribas entwirft in der App Immobilienprojekte.
Bei Pfizer umkreisen nicht nur Forscher Moleküle – ein ganze Produktionslinie hat das Unternehmen mit dem System von Spatial geplant. Dazu müssen Mitarbeiter aus verschiedenen, teilweise auf unterschiedliche Standorte verteilten Abteilungen wie Wartung, Arbeitssicherheit oder Elektrik zusammenkommen. Bislang sei das ein asynchroner, mehrere Tage dauernder Prozess gewesen, in dem jeder Fachmann seine Expertise schriftlich teilte, berichtet das Unternehmen. Nun werde dieser in einem Meeting in weniger als zwei Stunden erledigt.
Wer Spatial mit einer VR-Brille nutzt, verwandelt sein Wohnzimmer in einen Konferenzraum. Aus einem Porträtbild wird ein 3D-Avatar, der als Oberkörper durch den Raum schwebt, auf Kollegen zuschweben oder zum Zwiegespräch in eine Ecke schweben kann – anders als bei einem großen Videotelefonat. Trotzdem sei die Konzentration dank der Immersion in den virtuellen Raum größer als bei der 2D-Videokonferenz, sagt Pfizer-Direktor Yorgey. „Niemand checkt parallel im Internet, was er sich heute zu essen kocht.“
Virtuelle Gegenstände, Präsentations-Folien oder Dokumente lassen sich von der Wand greifen und in den Raum schieben. Die Integration mit anderen Apps wie Slack oder Microsofts Kollaborations-App Teams sei der große Vorteil, sagt Yorgey. Außerdem benötige nicht jeder eine Datenbrille: Man kann auch per klassischer Videokonferenz an einem 3D-Meeting teilnehmen und alle Präsentationen und Dokumente sehen. Nur selbst manipulieren kann ein 2D-Teilnehmer die Objekte nicht.
Sich begegnen können allein rechtfertige aber nicht die Anschaffung von VR-Brillen für eine ganze Abteilung. „Wenn man nur um einen Konferenztisch sitzt, ist Spatial eine übertechnisierte Lösung“, sagt Yorgey. Als würde man „einen Ferrari anschaffen, um damit immer 20 Meilen pro Stunden zu fahren.“ Dazu kommt der Stückpreis von aktuell 3500 Dollar für eine Hololens 2 – das lohnt sich eher, wenn man dadurch nachhaltig Arbeitszeit, Dienstreisen oder Büroplätze einspart.
Ein noch größeres Problem als die Anschaffungskosten für die Hardware sei aber das Training der Mitarbeiter, sagt Yorgey. Schon sich im Menü einer Hololens oder Quest zurechtzufinden, sei schwieriger als eine Videokonferenz zu starten – gerade für Kollegen, die mit brandneuer Technik fremdeln. „Wir haben einen Vertrag mit Webex – den behalten wir auch.“
Selbst Greg Sullivan von Microsoft ist vorsichtig, Hololens und ihre Anwendungen überzuverkaufen: „Menschen werden auch weiterhin gerne reisen und sich persönlich treffen“, sagt der Direktor für Mixed Reality des Software-Giganten. Auch gebe es schon jetzt viele Meetings, die besser eine E-Mail gewesen wären. „Die sollten künftig kein Meeting in 3D werden.“
Doch Sullivan betont die sozialen Vorteile eines Kollegentreffens in 3D statt per Videoschalte. In der Microsoft-eigenen App Altspace VR, die er mit seinem Team nutzt, könne jeder seinen Avatar individuell gestalten. „Man kann seine Persönlichkeit zeigen“, sagt Sullivan – gerade in Zeiten von Homeoffice ist das wichtig. Seit er und seine Teamkollegen ihre Büros in der Microsoft-Zentrale im März verlassen mussten, veranstalten sie jeden Donnerstagvormittag um 10 Uhr ein virtuelles Treffen, als Ersatz für die Gespräche in der Kaffeeküche.
Mehr: Wie der virtuelle Messebesuch mit 3D-Technik und Avataren möglich wird