Das Geheimnis um Hilma af Klint ist gelüftet
Die schwedische Malerin ist eine der größten Entdeckungen der vergangenen Jahre. Aber erst nach und nach begreifen wir alle Dimensionen ihres Werks – und wie Hilma af Klint von den Machern der Kunstgeschichte verdrängt wurde.
Man muss sich das einmal genau vorstellen. Da steht eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts an der Staffelei in ihrem Atelier in Stockholm, wo man sie als eine typische unverheiratete Adlige brav beschäftigt wähnte, und malt Bilder voller kosmischer Kreise und geometrischer Formen, die aussehen wie aus dem Drogentrip eines Naturwissenschaftlers. Sie heißen „Radioaktivität“ oder „Das Atom ist teilbar“ – und sind genauso gefährlich wie die Entdeckung der nuklearen Energie. Hilma af Klint muss das geahnt haben, als sie verfügte, dass ihre Bilder bis zwanzig Jahre nach ihrem Tod nicht gezeigt werden sollten. Dass es aber noch bis ins 21. Jahrhundert dauern sollte, bis die Welt endlich reif für sie war, hat sie sicherlich nicht geahnt.
Dabei war sie mit einem Werk von 1911 die Erfinderin der Abstraktion – Jahre bevor Kandinsky diesen Titel für sich reklamierte. Man muss ihre Bilder nur neben seine und die von Paul Klee oder Cy Twombly halten, um zu sehen, dass diese mutige, visionäre Frau den männlichen Kollegen um Jahre, teils Jahrzehnte voraus war. Der Film „Jenseits des Sichtbaren“ von Halina Dyrschka, der jetzt eigentlich im Kino zu sehen sein sollte, eine neue Biografie von Julia Voss („Die Menschheit in Erstaunen versetzen“) und eine Ausstellung mit nie gezeigten Arbeiten im Berliner Auktionshaus Grisebach, die auch online zu erleben ist, haben nun genau das gezeigt – und erzählt erstmals die Geschichte dieser Frau, die ganz bewusst von den Machern der Kunstgeschichte verdrängt wurde.
Vielleicht, so mutmaßt der Film, weil Kandinsky und die anderen Zeitgenossen in ihr eine Gefahr erkannten: Hilma af Klint bereitete der Avantgarde mit Bildung, Fantasie und Intuition das Pflaster, und nicht nur mit dem Verstand: „Was ich brauchte, war Mut. Und ich fand ihn durch den Einfluss der spirituellen Welt, die mir seltene und wunderbare Anweisungen bescherte.“
Es sind wunderbare Sätze wie dieser, der eines Tages zwischen 26.000 Notizseiten und 15.000 Bildern auftaucht, die Klint ihrem Neffen vermacht hat. Der Glaube, dass das Universum durch sie spricht, ist verknüpft mit den spiritistischen Sitzungen, die sie mit vier anderen Frauen regelmäßig durchführt. Séancen waren damals in Künstlerkreisen en vogue, mehr noch, sie waren nichts Außergewöhnliches, gehörten zum künstlerischen Dasein dazu.
Marschbefehl für die neue Malerei
Quantenphysik und Relativitätstheorie brachten in jenen Jahren die Vorstellung von Wirklichkeit ins Wanken; auch Kandinsky speist aus dieser Unruhe seine Leinwandexperimente. Doch blickt man auf dessen maschinengetippte Briefe, in denen er sich selbst „ein historisches Bild“ attestiert und von seinen Netzwerkern „publicity“ fordert, liest sich das wie ein Marschbefehl. Dagegen gleichen af Klints geschwungene Zeilen Radiowellen, mit denen sie 1908 auch Rudolf Steiner in ihr Atelier in Stockholm lockt.
Anders als ihre Künstlerkolleginnen, so denkt sie, würde der Vater der Anthroposophie ihre Bilder verstehen und mit ihr dafür einen gemeinsamen Tempel bauen. Doch der schüttelt nur verächtlich den Kopf und reist ab, um Kandinsky zu besuchen – nicht ohne die nachkolorierten Fotografien einzustecken, die Klint von ihren Arbeiten gemacht hat. Ob der sie zu Gesicht bekam, weiß man nicht.
Doch eins ist klar: Die beiden Künstler hätten sich sechs Jahre später, bei Hilma af Klints Teilnahme an der Baltischen Ausstellung Malmö, begegnen und feststellen können, dass sie längst über die Salonmalerei hinaus waren. Die Künstlerin zeigt dort das, was sie als eine der ersten Frauen an der Stockholmer Kunstakademie gelernt hat: artige Bilder von Landschaften und Porträts. Ihre Abstraktionen – florale Formen, Dreiecke in knallbunten Farben – hätte man hier niemals verstanden.
Klints Kunst wurde erst spät als solche erkannt
„Ich möchte einen tiefen Blick in unsere irdische Existenz erlangen, im Verhältnis zu jenem Element, das im Zentrum des Universums steht.“ Es ist diese kosmische Perspektive, die Betrachtung der Welt in einem größeren Zusammenhang, die sie ihre Bilder malen lässt – und nicht die Farb- und Formentheorien, die die Avantgarde ihrer männlichen Kollegen auch zu einer ziemlich kunstimmanenten Angelegenheit machten. „Über der Staffelei sah ich ein Jupiter-Symbol, das kräftig leuchtete. Die Bilder wurden direkt durch mich hindurchgemalt.“
Vielleicht war es der Vater, der ihr dieses Selbstvertrauen gab: Klint wurde 1862 auf Schloss Karlberg bei Stockholm in eine adlige Familie von Seeoffizieren geboren, interessierte sich für Kartografie, Naturwissenschaft und Botanik – und malte. Ihr Vater förderte ihr Talent und ließ sie Kunst studieren. Dass sie sich irgendwann als Medium sah, durch das der Kosmos seine Bilder schickte, hätte ihm wohl allerdings kaum behagt. Ebenso wenig wie einem ehemaligen Direktor des Moderna Museet in Stockholm, der ihren Nachlass Anfang der Siebzigerjahre ungesehen ablehnte – eine Frau, und dann noch eine mit Visionen, gehörte in kein Museum. Das befand auch das Museum of Modern Art in New York: In der Ausstellung „Inventing Abstaction 1910–1925“ im Jahr 2012 wurde sie mit keinem Wort erwähnt.
Auf Nachfrage der Regisseurin kommt die Antwort: „Man sei sich nicht sicher, ob Hilma af Klints Kunst wirklich wie abstrakte Kunst funktioniere.“ Selbst in einer Zeit, als das Guggenheim Museum ihr 2018 eine Soloschau widmet, die zum Publikumsrenner wird, sträuben sich Experten also noch immer gegen diese Frau, die ihr Œuvre so vollkommen autark entwickelt hat, ohne einflussreiche Galeristen, Freunde und Kollegen, ohne die man am Kunstmarkt nicht weit kommt.
Hilma af Klint, die Einzelgängerin. Aber unglücklich? Eher nicht. „In mir strömt so eine Kraft, dass ich vorwärts muss. Ehe und Familienglück sind nicht für mich gemacht.“ Sie stirbt 1944 an den Folgen eines. Verkehrsunfalls mit einer Straßenbahn. Lange hat ihre Seele geruht, als hätte sie sich in ihr Schicksal ergeben, unsichtbar zu sein – so wie die Wellen und Teilchen, die die Malerin umtrieben. Dass es aber nun nach mehreren großen Ausstellungen diesen Film, die Biografie und die wunderbare kleine Verkaufsschau gibt, ist, als hätte das Universum entschieden, sie endlich auf uns loszulassen – vielleicht, weil wir erst jetzt bereit für sie sind.