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Am Vorabend des G-20-Gipfels protestieren Demonstranten unter dem Motto "G20 Welcome to hell"

Quelle: pa/Boris Roessle/Boris Roessler

„Ich war in meinem Beruf nicht mehr wirklich glücklich“

Ab Freitag steht in Hamburg ein ehemaliger Polizist vor Gericht: Er ist angeklagt, während des G-20-Gipfels eine Bierdose auf seine damaligen Kollegen geworfen zu haben. Zu seinen Motiven hat er sich bereits geäußert.

Eine der interessantesten Fragen dieses ungewöhnlichen Falls ist, wann Oliver D. wohl den Bezug zu seinem Beruf verlor. Er war davor immerhin schon zehn Jahre Polizist gewesen, bevor er nach Hamburg fuhr und mutmaßlich Bierdosen auf Kollegen feuerte. War bei ihm die Überzeugung gewachsen, den falschen Beruf zu haben? Musste er sich in seinem Umfeld rechtfertigen?

Der heute ehemalige Beamte aus München muss sich kommenden Freitag vor dem Amtsgericht Hamburg-Altona wegen versuchter gefährliche Körperverletzung verantworten. Es ist eines der seltenen Verfahren, die sich in der Aufarbeitung der gewaltsamen G-20-Proteste gegen Polizisten richten. Allerdings geht es nicht um einen klassischen Fall von Polizeigewalt. Dem 38-Jährigen wird ein tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte vorgeworfen. Der Mann, der damals noch Polizist war, hatte Polizisten angegriffen, als er während der Gipfeltage privat in Hamburg weilte, so der Vorwurf.

Der mutmaßliche Übergriff passierte am Vorabend des G-20-Gipfels im Juli 2017. Medienberichten zufolge soll ein Polizeivideo zeigen, wie D. und seine Freundin zwei Bierdosen (Astra, 0,5 Liter) von einer Brücke nahe des Fischmarkts werfen, unter der Polizisten hindurchrennen. Kurz darauf stellt er sich den Fragen eines „Spiegel TV“-Teams, der Beitrag läuft später im Fernsehen.

Darin kritisiert er den Polizeieinsatz, mit dem zuvor eine Demo von Gipfelgegnern aufgelöst worden war. „Also, es war wirklich friedlich. Man hat in der Ferne ein, zwei Knalle gehört. Und dann kommt aus jeder Ecke die Polizei. Völlig unverständlich“, sagt der Mann in dem Video.

Erst später kommt heraus, dass D. selbst Polizist ist, 2017 im Münchner Polizeipräsidium arbeitete und auch eine Zeit in der Bereitschaftspolizei verbracht haben soll. Einsätze wie die zu G 20 hätten ihm vertraut sein müssen. Enttarnt wird D. von Münchner Kollegen, die von der Hamburger Soko „Schwarzer Block“ bei der Auswertung von Videos um Hilfe gebeten werden. In der ersten Vernehmung, noch in München, gibt er den Wurf zu, bestreitet aber, eine Straftat begangen zu haben.

Anwalt verteidigt vorrangig Mandanten aus linker Szene

Schon am vergangenen Freitag hätte der erste von drei Prozesstagen gegen D. und dessen Freundin beginnen sollen. Aufgrund von Abstimmungsproblemen jedoch wurde einigen Journalisten der Zugang zum Gerichtssaal verweigert, in Corona-Zeiten gibt es nur eine limitierte Zahl an Plätzen. Nach Beschwerden wurde der Prozess abgesetzt, er soll eine Woche später erneut starten.

Die Erklärungen der Angeklagten hatten die Verteidiger da bereits verlesen. Darin beteuerten sie, sie hätten niemanden verletzen wollen. Er habe seine Dose bewusst auf eine freie Fläche geworfen, sagt D. Das Motiv: Die friedliche Demonstration sei aus dem Ruder gelaufen und die Polizei rabiat vorgegangen. „Geschockt und wütend“ seien sie gewesen. Weder beruflich noch menschlich habe er verstanden, warum die Situation eskaliert sei, sagt D. Es ist davon auszugehen, dass beide ihre Erklärung wiederholen werden.

Verteidigt wird D. von Alexander Kienzle. Polizisten, auch Ex-Polizisten, gehören gewöhnlich nicht zu seinem Klientenstamm. Der Anwalt vertritt vorrangig Mandanten aus der linken Szene, hatte nach G 20 viel zu tun, bis heute. Auch fast drei Jahre danach läuft die juristische Aufarbeitung noch. In einem Großverfahren wird aktuell versucht, die massiven Ausschreitungen an der Elbchaussee aufzuklären.

Ein Komplex von sieben weiteren Verfahren mit jeweils bis zu 19 Beschuldigten wird zudem den gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Polizei und Gipfelgegnern am Rondenbarg zum Thema haben. Termine für die Hauptverhandlungen gibt es noch nicht. Die Staatsanwaltschaft hat bislang 957 Verfahren gegen 1278 „identifizierte Beschuldigte“ geführt, heißt es in einer Aufstellung. Es gab 411 Anklagen, in 78 Fällen wurden Strafbefehle beantragt. 434 Verfahren wurden eingestellt, wegen mangelnden Tatverdachts oder zu geringer Schuld.

Anklagen gegen Polizisten gibt es bislang nicht. Von 157 Verfahren wurden 120 mangels Tatverdacht eingestellt. In einem Fall erging ein Strafbefehl, nach einem Streit zwischen Polizisten. Fälle von Polizeigewalt hat das zuständige Dezernat Interne Ermittlungen nicht ermittelt, was selbst Innensenator Andy Grote (SPD) stutzig macht: „Wenn man die Bilder sieht, (...) hat man schon das Gefühl, dass da auch Dinge dabei waren, die tatsächlich strafwürdig sind“, hatte der im September 2019 erklärt.

Oliver D. hat sich jüngst in der „Hessenschau“ zu seinen Plänen geäußert. Den Polizeidienst habe er quittiert, sagt er in einem Beitrag zum Thema „späte Berufsumsteiger“. Er habe eine Ausbildung zum Rettungssanitäter gemacht, studiere Medizin in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main. „Ich war in meinem Beruf nicht mehr wirklich glücklich.“ Viele hätten das Bild von einem Polizisten im Kopf, „der eher nicht ganz so hilfreich wirkt“, sagt er vorsichtig. Den anstehenden Prozess erwähnte er nicht.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: WELT AM SONNTAG