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Leo Tolstoi (1828-1910) beim Ausreiten

Quelle: De Agostini via Getty Images

Als Tolstoi von einem Bären gebissen wurde

Leo Tolstoi ging gern jagen. Doch einmal ging der Bär, den er erlegen wollte, auf den Schriftsteller los. Er wurde verwundet. Was genau passierte, schilderte seine Tochter Tatjana in ihren Erinnerungen.

Bei Tolstois zu Hause lag ein Bärenfell. Ein großes, schwarzes Bärenfell, von dem Tolstois älteste Tochter Tatjana in ihren Aufzeichnungen „Ein Leben mit meinem Vater“ (KiWi) Folgendes berichtet: „Es war ein ganz besonderer Bär: er sah nämlich aus, als sei er lebendig. Die braunen Glasaugen schienen echt, er hatte Zähne und sogar eine Zunge war ihm eingesetzt worden. Aber wichtiger war, dass wir wussten, dieser Bär hatte einmal Papa gebissen, wovon eine kreisrunde Narbe auf dessen Stirn zurückgeblieben war.“

Narbenpapa, in diesem Fall Leo Tolstoi (1828 bis 1910), gehört mit Romanen wie „Krieg und Frieden“ (1868) und „Anna Karenina“ (1878) zum Markenkern dessen, was man Weltliteratur nennt.

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Leo Tolstoi (1828 bis 1910)

Quelle: Print Collector/Getty Images

Als Dichter mutierte er schon zu Lebzeiten zur Sehenswürdigkeit, ein bisschen wie Goethe in Weimar, nur krasser. Tolstoi zog extremere Fans an, er lebte ja auch selbst extrem: Erst Spieler und Soldat, dann „wahrer“ Christ und Pazifist, erst Adelsspross aus einer Familie mit 330 Leibeigenen, dann selbst pflügender Pseudo-Bauer, erst Jäger, dann Hardcore-Vegetarier. Im Alter war er vor allem Steinbruch für Anekdoten – abgeklopft von unzähligen Besuchern, die ihm auf seinem Landgut in Jasnaja Poljana die Aufwartung machten. Tschechow sah in Tolstoi „keinen Menschen, sondern ein Menschentum“. Rilke erlebte ihn bei Sturm: „der große Bart wehte“.

Tolstoi wurde nicht nur von berühmten Gästen aufgesucht, er wurde wegen seiner kreisrunden Stirnnarbe auch von den Freundinnen seiner eigenen Töchter angestarrt. Wenn das der Fall war, so Tatjana Tolstoi in ihren Erinnerungen, dann ließ er sie manchmal bereitwillig die Narbe befühlen: „Oft erzählte er selbst noch einmal den Hergang. Eines Tages, es lag schon lange zurück, hatte er in der Gegend von Smolensk auf einen Bären geschossen, ihn aber nur verwundet. Der wild gewordene Bär hatte sich auf ihn gestürzt, ihn umgeworfen und sich dann daran gemacht, ihn in Stücke zu reißen.“

Bärenstarke Action! Schon in Tolstois Wimmelbild „Krieg und Frieden“ steppt der Bär, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn. Mal taucht er als Mummenschanz auf, mal als Metapher für fehlende Manieren: „Bringen Sie diesem Bären hier Bildung bei“, sagt Fürst Wassilij – mit Blick auf Pierre Besuchow – zu Anna Pawlowna. Mal ist er Spielzeug („Aus einem dritten Zimmer hörte man tollen Lärm, Lachen, Schreien bekannter Stimmen und Bärengebrüll“), mal Anekdote (die Geschichte vom Polizeiaufseher, der sich einen Bären aufbinden ließ). Auch eine Kindergeschichte Tolstois erzählt von drei Bären.

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Wahrscheinlich erzählte Tolstoi die Story noch seinen Enkeln

Quelle: Print Collector/Getty Images

Von Tolstois Bärenjagd im echten Leben, bei der er beinahe in Stücke gerissen worden wäre, berichtet die Tochter folgenden Ausgang: „Wie Papa sagte, hatte er den glühenden Atem des Tieres über seinem Gesicht gespürt. Sein Jagdgefährte aber, ein Bauer, hatte ihm das Leben gerettet, indem er das Tier mit einem Jagdspieß zurücktrieb.“

Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, datiert Tolstois Bärennarbe in seiner Kurzbiografie (C.H. Beck Wissen) auf das Jahr 1858. Die 1864 geborene Tochter Tatjana kannte ihren Papa nie anders denn als Narbenpapa und liebte das Bärenfell, das im Vorraum zum Schlafzimmer der Eltern lag, als Ort zum Träumen: „Wenn ich auf dem rauen Fell lag, betastete ich die Zähne des Bären und dachte an die Gefahr, der Papa ausgesetzt gewesen war, dann schlief ich weiter, bis Papa im Morgenrock, Haar und Bart zerzaust, aus seinem Zimmer trat, um sich hier anzukleiden, mich weckte und in mein Bett zurückschickte.“

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.


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