Fachärzte: Erst leere Wartezimmer, jetzt Termin-Stau
by NDRLeere Wartezimmer: In der Hochphase der Corona-Pandemie in Deutschland ist die Zahl der Facharzt-Besuche massiv zurückgegangen - um bis zu 80 Prozent. Das zeigt eine bundesweite Abfrage des NDR bei Berufsverbänden, Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen. Besonders bei Herz-Kreislauf- oder Krebs-Patienten könne das dramatische Folgen haben. NDR Info hat eine Praxis in Hamburg besucht.
Von Marie Löwenstein und Christoph Heinzle
Bernd Sonnenschein sitzt auf einer Liege im Untersuchungszimmer. Die Kardiologin Christina Brinkmann legt ein Stethoskop an seine Brust: "Man hört die Enge des Geräusches - auf jeden Fall."
Der 75-Jährige kommt alle drei Monate in das Medizinische Versorgungszentrum Prof. Mathey, Prof. Schofer in Hamburg. Seit zwei Jahren quälen ihn Herzbeschwerden wie Brennen in der Brust und Kurzatmigkeit, die beobachtet werden müssen. Heute stellen die Ärzte fest, dass er eine neue Aortenklappe braucht. Seine sei stark verkalkt. Der Rentner ist froh, dass er den Termin in der Praxis wahrgenommen hat, obwohl er zur Corona-Risikogruppe gehört: "Was sein muss, muss sein. Es geht um meine Gesundheit und um das Herz. Ich weiß ja nicht, wie lange das noch funktioniert." Das sei der Grund, warum er heute gekommen sei.
Rückgänge von bis zu 80 Prozent
Zum Arzt gehen trotz Corona - während der Krisen-Monate haben deutlich weniger Menschen in Deutschland Facharzttermine wahrgenommen als zuvor. Die Verunsicherung war bei vielen Patienten groß. Das zeigt eine bundesweite Abfrage des NDR bei Berufsverbänden, Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen. Kardiologen und Onkologen vermelden für ihre Patienten, die in der Regel zu einer Risikogruppe gehören, Rückgänge der Termine zwischen 30 und 50 Prozent. Zahnärzte verzeichnen sogar ein Minus von bis zu 80 Prozent.
Genau beziffert werden kann der Rückgang in den Praxen zwar erst, wenn das Quartal abgerechnet ist. Doch nicht nur viele Ärzte berichten von leeren Wartezimmern, auch die Zahlen der telefonischen Terminvergabestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen weisen auf einen Rückgang hin. In Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg etwa haben sich die Anfragen halbiert. Viele Patienten hätten auch ihre Vorsorge-Untersuchungen versäumt, sagt Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Termine nicht wahrgenommen
Diesen Effekt hat auch Kardiologin Christina Brinkmann gemerkt. In das Versorgungszentrum, für das sie arbeitet, seien etwa 30 Prozent weniger Patienten als im gleichen Zeitraum des Vorjahres gekommen. Oft seien sie einfach nicht erschienen. Wie zum Beispiel ein junger Mann, der sich vor den coronabedingten Einschränkungen mit Herzbeschwerden vorgestellt hatte, seinen Folgetermin aber nicht wahrnahm: "Von dem Patienten haben wir jetzt leider erfahren, dass er mit einem schweren Herzinfarkt, der auch einen Herzstillstand beinhaltet hat, auf einer Intensivstation liegt - mit wirklich unklarem Ausgang für ihn." Wäre er gekommen, hätte man den Ausgang des Falls sicherlich beeinflussen können, meint Brinkmann.
Vorsorge nicht aufschieben
Auch die Kassenärztlichen Vereinigungen warnen davor, dass sich Krankheitsverläufe verschlimmern können, wenn Patienten ihre Routine-Untersuchungen versäumen. Viele Therapien seien während der vergangenen Wochen unterbrochen worden, sagt Monika Schliffke, Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein. Diese müssten jetzt wieder in Gang gebracht werden: "Vorsorgeuntersuchungen wie Hautkrebs, Brustkrebs und Darmkrebsvorsorge sind wichtig. Und vor allem Verdachts-Abklärungen sollten nicht aufgeschoben werden."
Engpässe sind möglich
Schutzkleidung organisieren, Plexiglas-Scheiben aufstellen und Infekt-Sprechstunden einrichten: Zu Beginn der Corona-Krise mussten viele Arztpraxen den Infektionsschutz organisieren. Nicht-akute Termine wurden deswegen teils verschoben. Doch schon seit mehreren Wochen lautet die offizielle Empfehlung der Fachverbände an Patienten, ihre Arzttermine wieder wahrzunehmen. Viele Menschen trauten sich auch langsam wieder in die Sprechstunde kommen, sagt Monika Schliffke. Doch müssten die vielen versäumten Termine erst aufgeholt werden. Es könnte Engpässe geben, zum Beispiel bei der Darmkrebsvorsorge oder gewissen radiologische Untersuchungen: "Wenn jetzt alle auf einmal sich die Termine holen, dann kann es da natürlich zu einem Berg kommen, der abgearbeitet werden muss."
Abläufe werden umorganisiert
Die Gefahr von Termin-Stau sieht auch Kardiologin Brinkman aus Hamburg. Um lange Wartezeiten zu verhindern, wollen sie und ihre Kollegen die Abläufe in der Praxis umorganisieren und gegebenenfalls auch mehr arbeiten. Denn ihr Appell an die Patienten lautet ganz klar: Bitte gehen Sie zum Arzt!