"Hypothesen sind widerlegt": Polizei-Gutachten zerpflückt Kronzeugin der ARD - neue Vorwürfe gegen Polizei
by FOCUS OnlineEs ist eine politische Affäre. In der JVA Kleve kam ein Syrer zu Tode, der eigentlich nicht dort sitzen sollte. Er wurde verwechselt. Mithilfe einer IT-Expertin stellte die ARD die Frage in den Raum, ob es zur Verwechslung aus ausländerfeindlichen Motiven kam. Ein LKA-Gutachten zerpflückt die Aussagen dieser Frau. Doch nun kommen neue Vorwürfe gegen die Polizei auf.
Manche Geschichten münden in eine Tragödie: So etwa die Aufklärung um den Tod des Syrers Amed A. in der JVA Kleve bei einem selbstgelegten Brand am 17. September 2018. Seit gut anderthalb Jahren sucht ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im nordrhein-westfälischen Landtag die Hintergründe des Falls zu beleuchten. Insbesondere den Umstand, dass der 26 Jahre alte Asylbewerber wegen einer Fahndungspanne der Kripo Kleve seinerzeit fälschlicherweise einsitzen musste. Die Ermittler hatten Amed A. mit einem per Haftbefehl gesuchten Dieb aus Mali verwechselt. Ein fataler Fehler.
Die Fahndungspanne ist einer der Kernpunkte in dem Fall. Und führte seit dem Tod des jungen Flüchtlings zu wilden Spekulationen – allen voran kolportiert durch Reporter des ARD-TV-Magazins "Monitor" und "Westpol" (WDR). Am 4. April 2019 gaben sie eine Pressemitteilung heraus, wonach "eine gezielte Manipulation von Datensätzen nicht mehr auszuschließen" sei, "die schließlich zur monatelangen Inhaftierung" von Amed A. geführt habe. Auch für die rot-grüne Opposition im Landtag von Nordrhein-Westfalen stelle sich mittlerweile die Frage, ob hier "in irgendeiner Weise Absicht" im Spiel gewesen sei.
Wurden Einträge bewusst gefälscht?
Als Beleg führte "Monitor" eine Analyse der eigens beauftragten Gutachterin Annette Brückner an. Nach eigenen Angaben langjährige Expertin für Polizeiinformationssysteme will die IT-Spezialistin zahlreiche Ungereimtheiten bei ihrer Untersuchung der polizeilichen Datensätzen gefunden haben. Zitat Brückner: "Hier sind ganz gezielt mehrere Einzeleinträge verändert worden. Von daher gehe ich davon aus, dass es eine vorsätzliche Veränderung, also vorsätzliche Manipulation dieses Datensatzes war, um ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen."
Seither steht ein ungeheuerlicher Verdacht im Raum: Demnach hätte die Polizei die Einträge in den Fahndungssystemen bewusst gefälscht, um den Syrer Amed A. weiter in Haft halten zu können. Vermutlich aus rassistischen Beweggründen.
"Im Raum steht immer noch die Vertuschung wegen ausländerfeindlicher Motive"
Sven Wolf, SPD-Mitglied des NRW-Untersuchungsausschusses, assistierte seinerzeit: Die bisher vorliegenden Ermittlungsergebnisse hätten demnach "sehr deutlich gezeigt, dass das bisherige Erklärungsmuster des Innenministers in Nordrhein-Westfalen nicht mehr passt. Jetzt stellt sich tatsächlich die Frage: war das ein ganz dummer Fehler, der gemacht worden ist, oder gab es da in irgendeiner Weise Absicht, ja, war der Wunsch Vater des Gedankens? Wollte man irgendetwas finden?"
Starker Tobak. Landesregierung und Justiz widersprachen vehement. Bereits im vergangenen Jahr hatten die Nachforschungen ergeben, dass eine Sachbearbeiterin der Polizei in Siegen die Daten des Diebes aus Mali und des Syrers Amed A. im NRW-Fahndungssystem VIVA irrtümlicherweise zusammengeführt hatte. Dazu genügten einige wenige Mausklicks.
Die Opposition und die öffentlich-rechtlichen Enthüllungsjournalisten aber blieben bei ihrer Auffassung. Im Januar 2020 trat die IT-Expertin Brückner im Untersuchungsausschuss auf und überreichte ein Handout ihrer Analyse mit demselben Ergebnis. Erst drei Tage nach der Verhaftung des Amed A. seien die Personendaten der beiden Männer zusammengeführt worden, hieß es. Diese Annahme würde ein Komplott der Polizei mit dem Ziel nahelegen, den unschuldigen Syrer unter allen Umständen einzubuchten. Die Meldung der Analyse der Privatgutachterin Ende Januar 2020 im Untersuchungsausschuss lief bundesweit über den Ticker. Tenor: Polizei manipuliert Datensätze.
Zugleich gab Brückner, eine Publizistin und Journalistin, erneut beim WDR-Magazin "Westpol" mit ihrer Manipulationsthese die Belastungszeugin. Der Beitrag endete mit dem folgenschweren Satz: "Im Raum steht immer noch die Vertuschung wegen ausländerfeindlicher Motive".
Regierungsbeamtin hätte Kreuztreffer weiter prüfen müssen
Eine Theorie, die neuesten Untersuchungen nicht mehr standhält. FOCUS Online liegt ein aktueller Bericht des Landeskriminalamts (LKA) NRW und dem Landesamt für zentrale polizeiliche Dienste (LZPD) vor, der auf 55 Seiten die Analyse der IT-Expertin scheibchenweise zerpflückt. Der LKA-Report, angefordert durch den Untersuchungsausschuss, kommt zu einem eindeutigen Fazit: "Damit sind die von der Zeugin Brückner ihrem Handout aufgestellten Hypothesen …. widerlegt."
Demnach geschah die Datenpanne, die zur Verhaftung des Amed A. führte, am 4. Juli 2018 durch einen so genannten "Kreuztreffer". Am frühen Mittag führte eine Regierungsbeamtin der Polizei in Siegen eine Personenabfrage mit dem Vornamen Amed nebst Geburtsdatum 01.01 1992 bei der NRW-Fahndungsdatei VIVA und dem bundesweiten System INPOL durch. Dabei ploppten zwei Datensätze hoch. Jener des Amed A. und jener des gesuchten Diebes aus Mali, der ebenfalls unter dem Aliasvornamen Amed bekannt war.
Da im VIVA-Register noch keine Fahndungsfotos eingestellt waren, hätte die Sachbearbeiterin einen Blick in den bundesweiten INPOL-Datenbestand werfen müssen, um den Unterschied zwischen beiden Personen zu erkennen. Der gesuchte Dieb aus Mali verfügte über eine schwarze Hautfarbe, der Syrer Amed A. nicht. Ohne den Kreuztreffer weiter zu überprüfen, legte die Regierungsbeamtin entgegen ihrer Befugnisse die Personalien zusammen. Laut dem LKA-Gutachten erfolgte der Fehler zwei Tage vor der Festnahme des Amed A. Somit kann von einer bewussten Manipulation der Daten keine Rede sein.
LKA kritisiert Wortwahl von Brückner
Dasselbe Versäumnis begingen am 6. Juli 2018 Kriminalbeamte in Kleve, als sie Amed A. wegen des Verdachts der sexuellen Belästigung von vier Frauen an einem Baggersee festnahmen. Ohne einen Fotoabgleich durchzuführen schickten die Beamten ihn auf Grund des Haftbefehls aus Hamburg in Haft. Eine schwerwiegende Schlamperei der Polizei gewiss, aber ganz offensichtlich keine böswillige Absicht, um einen syrischen Flüchtling illegal festzusetzen oder gar in den Tod zu treiben.
Somit gelangten die LKA-Gutachter zu dem Resümee: "Die Schlussfolgerung der Zeugin Brückner widerspricht den Ergebnissen der Analyse- und Auswertung der Protokolldateien des Landesbestandes in VIVA." Die Einsatzbeamten der Kripo in Kleve hätten "keinerlei Veränderungen am Datenbestand vorgenommen" Zu guter Letzt kritisierten die Sachverständigen die Wortwahl in dem Handout der Freiberuflerin. "Die Diktion, mit der die Zeugin Brückner ihre Hypothesen beziehungsweise Schlussfolgerungen formuliert, entspricht nicht den wertneutralen, objektiv-analytischen Aussagen, die man üblicherweise von einer Gutachterin erwarten dürfte."
FOCUS-Online-Berichterstattung von SZ kritisiert
Als FOCUS Online zum ersten Mal Ende Januar über die zweifelhaften Recherchen des Senders im Fall JVA Kleve berichtete, gab der WDR eine Stellungnahme heraus. So deklarierte der Sender Anette Brückner als Beraterin vieler IT-Projekte von unterschiedlichen Polizeibehörden. Zitat: "Sie hat auch ein Gutachten für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags NRW zum Komplex 'Datenzusammenführung' erstellt" und sei dazu im Landtag befragt worden. "Daraufhin geriet die bisherige Darstellung der Landesregierung ins Wanken." Mehrere Medien hätten darüber berichtet. Diese Zeugin als "ominös" zu bezeichnen und dem WDR zu unterstellen, er operiere mit fragwürdigen Experten, "ist völlig haltlos".
Alsbald half auch die Süddeutsche Zeitung (SZ) mit einem kurzen Verriss der FOCUS-Online-Beiträge aus. Dazu muss man Folgendes wissen: Das Münchner Verlagshaus kooperiert im Recherchenetzwerk mit dem WDR. Zufall oder nicht rückte denn auch eine NRW-Landeskorrespondentin der SZ seinerzeit die FOCUS-Online-Stücke in die Rechtsaußenecke. Für die Berichterstattung habe es "Retweets der AfD" gegeben.
"Verschwörungstheorie, dass Amed A. Rassismus-Opfer der Polizei in Kleve sei, ist widerlegt"
Ausführlich wurde denn auch eine WDR-Sprecherin zitiert, die sich "deutlich irritiert" vom FOCUS Online-Text zeigte. Nach ihrer Aussage hätten die "Monitor"-Recherchen zu neuen Ermittlungen der Behörden geführt. Das stimmt. Nur, dass die Nachforschungen der Strafverfolger schon zu jenem Zeitpunkt die Theorien der WDR-Reporter widerlegten. Diesen Umstand ließen WDR und SZ allerdings unerwähnt.
Vergangenen Dienstag wurde mediale Daten-Manipulationsthese durch eine weitere Aussage wiederlegt: Experten der Polizei und ein Mitarbeiter des Herstellers der Fahndungsdatenbank VIVA widersprachen der IT-Expertin Brückner in diesem entscheidenden Punkt. Er sei sich sicher, dass die Personen-Datensätze des Syrers und des Afrikaners vor der Festnahme des Syrers zusammengeführt worden seien, zitiert die Deutsche Presse Agentur den Zeugen. "Die Daten geben keine andere Erklärung her." Dies lege wiederum eine Verwechslung beider Männer nahe, obwohl die sich nicht ähnlich gesehen hätten.
Die christdemokratische Regierungspartei sieht sich in ihrer Auffassung bestärkt. Der Unions-Landtagsabgeordnete Oliver Kehrl sagte: "Nach der Sitzung im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss ist die von interessierten Kreisen lancierte Verschwörungstheorie, Amed A. sei ein Rassismus-Opfer der Polizei in Kleve, endgültig vom Tisch." Die leitenden Polizeibeamten und Mitarbeiter der beratenden Software Firma hätten detailliert entsprechende Hypothesen der Journalistin und Zeugin Annette Brückner widerlegt. Ferner sprach er von einer "wenig belastbaren Theorie" und warf der Belastungszeugin von "Monitor" eine "fehlende und mangelnde Faktenkenntnis" vor.
Die grün-rote Opposition ist allerdings immer noch anderer Meinung. Nach wie vor hält man an der These der Gutachterin Brückner fest. Stefan Engstfeld, Obmann für die Grünen im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss, sagte zu den Manipulationsvorwürfen der Fahndungsdateien: "Wir können zum jetzigen Stand der Nachforschungen nichts ausschließen. Es stellt sich nach wie vor die Frage, warum eine Sachbearbeiterin bei der Polizei in Siegen, die Daten von Amed A. und dem gesuchten Dieb aus Mali zusammengeführt hat. Rechtlich gesehen war die Frau dazu gar nicht befugt. Auch hat sie bei ihrer Befragung abgestritten, einen Kreuztreffer gefunden zu haben."
Zudem sei unklar, auf wessen Anweisung dies geschehen sei, führte der grüne Landtagsabgeordnete weiter aus: "Um dies zu klären, sind die Vorgesetzten der Polizeibediensteten geladen." Schließlich, so heißt es in Oppositionskreisen, habe man einen Untersuchungsauftrag und den gelte es durchzuführen.
Neue Vorwürfe gegen Polizei
Inzwischen erhoben das WDR-Magazin "Westpol" und der "Kölner Stadt-Anzeiger" neue Vorwürfe: So tauchte den Angaben zufolge inzwischen ein Vermerk auf, wonach die Staatsanwaltschaft Braunschweig bereits drei Wochen nach der Festnahme des syrischen Migranten Amed A. einen Kripobeamten in Kleve auf die Verwechslung der Personen aufmerksam machte. Die niedersächsischen Strafverfolger wiesen demnach daraufhin, dass die Person, die in Kleve verhaftet wurde, „nicht identisch mit der Person…," sei, "die in diesem Verfahren angeklagt ist", vermerkte eine Staatsanwältin. Die Worte „nicht identisch" seien unterstrichen, heißt es. Die verhaftete Person sei laut der Polizei Kleve arabischer Herkunft, heißt es weiter, der gesuchte Dieb stamme aber aus Afrika.
Laut der Staatsanwältin habe sie den Polizisten G. in Kleve über den Sachverhalt informiert, auch die Telefonnummer des Beamten ist den Berichten zufoge in dem Vermerk angegeben. Der hatte bei seiner Befragung im Untersuchungsausschuss nichts von dem Telefonat erzählt. Vor dem Hintergrund hat die Staatsanwaltschaft Kleve ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung gegen den Beamten eingeleitet.
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