Hertha als Geisterspiele-Tabellenführer nach Leipzig
Zwischen Höhenflug und Angstgegner
by Dennis WieseHertha ist die erfolgreichste Mannschaft seit dem Bundesliga-Neustart. In Leipzig wartet auf Bruno Labbadias Spieler nun Hochgeschwindigkeitsfußball und ein starkes Kollektiv. Was dagegen helfen soll? Neues Selbstvertrauen und Effektivität. Von Dennis Wiese
Die Herthaner entwickeln sich zu Meistern des leeren Raums. Am frühen Nachmittag saßen Manager Michael Preetz und Trainer Bruno Labbadia einmal mehr auf dem Podium des ansonsten leeren Medienraums des Berliner Fußball-Bundesligisten. Dort beantworteten sie, in soziale Medien übertragen, die zuvor eingereichten Journalistenfragen vor dem Spiel in Leipzig (Mittwoch, 18:30 Uhr). Am Sonntag hatten Preetz und die anderen Mitglieder der Hertha-Geschäftsführung in einem ähnlich verwaisten Raum die erste digitale Mitgliederversammlung der Klub-Geschichte abgehalten.
Priorität Bodenhaftung
Auch die Spieler kommen mit der Leere in den Stadien bestens zurecht. Nach den ersten beiden Geisterspieltagen ist Hertha sozusagen Corona-Tabellenführer: Sechs Punkte, 7:0 Tore, das können weder die Bayern noch der kommende Gegner RB Leipzig bieten. Manager Preetz will von plötzlichen Europa-Ambitionen nichts wissen: "Wir tun sehr gut daran, die Bodenhaftung zu bewahren, weiter zu arbeiten und zu punkten. Das erste Ziel bleibt, den Abstand nach unten zu vergrößern." Dabei trennen Hertha nur fünf Punkte von Europa-League-Platz sechs. Zehn Zähler Vorsprung sind es auf den Relegationsplatz.
Im Kreislauf von Karo einfach
Egal in welche Richtung sie derzeit bei Hertha schauen: Es ist augenscheinlich, dass der Neustart unter Bruno Labbadia lange verborgene Fähigkeiten zutage bringt. Die Einzelkönner in Blau-Weiß funktionieren als Mannschaft, verteidigen geschlossen und zeigen im Angriff, dass sie die Fußball-Basics beherrschen.
Bestes Beispiel ist das 1:0 von Kapitän Vedad Ibisevic im Derby gegen Union: Marvin Plattenhardt schlägt eine Flanke, die es früher auf eine Lehr-VHS geschafft hätte, Vedad Ibisevic löst sich im genau richtigen Moment vom Gegenspieler, köpft dann mit Präzision und Kraft. Karo einfach. Einfach erfolgreich. Sehr zur Freude des neuen Trainers Bruno Labbadia: "Die Mannschaft spürt, dass sich die intensive Arbeit lohnt. Das ist dann ein Kreislauf: Mit Siegen wächst der Glaube, mit dem Glauben gelingen Dinge."
Ähnliche Aufstellung wie gegen Union?
Die Stimmung innerhalb seiner Mannschaft sei gut, berichtet der Coach. Eine Rotation vor dem Spiel in Leipzig sei möglich, aber nicht unbedingt nötig. Das Trainer-Team habe viel dafür getan, damit die Spieler regenerieren können und fünf Tage nach dem Derby auch in Leipzig mithalten können. Weil Karim Rekik, Niklas Stark, Marius Wolf und Santiago Ascacíbar nach ihren Verletzungen noch nicht fit sind, dürfte der Kader in Leipzig ähnlich aussehen wie gegen Union.
Bescheidene Bilanz gegen Leipzig
Naturgemäß hat es das Duell zwischen Hertha und dem Retortenverein RB Leipzig, der erst seit 2016 in der Bundesliga spielt, noch nicht oft gegeben. Doch die Erinnerungen sind aus Berliner Sicht schmerzhaft: 0:5, 2:6, 1:4 lauteten einige der Resultate. Sechs Mal verlor Hertha gegen die Leipziger Hochgeschwindigkeitsfußballer in bisher sieben Spielen.
In Leipzig sprang vor zweieinhalb Jahren ein Hertha-Sieg heraus: "Das ist eine Erinnerung, die ich mitnehme, wenn wir uns auf den Weg machen", so Manager Michael Preetz, der alle Duelle an der Seitenlinie miterlebte. Bruno Labbadia wird erstmals als Hertha-Trainer auf den Angstgegner treffen: "Wir werden nicht alles verhindern können. Wir müssen Leipzigs Tempo und Intensität auch aushalten. Trotzdem wollen wir nicht nur warten, sondern auch intensiv dagegen anspielen."
Wiedersehen mit Timo Werner
Aktuell ist Leipzig Tabellendritter, mit sieben Punkten Rückstand auf Tabellenführer Bayern. Will man aus dem starken Kollektiv der Nagelsmänner einen Spieler hervorheben, dann muss das wohl Timo Werner sein. Nationalspieler, 24 Jahre, 24 Saisontore. Derzeit heftig umworben von Jürgen Klopps FC Liverpool. Werner gehört zu den besten Angreifern Deutschlands. Er feierte sein Profi-Debut einst beim VfB Stuttgart - unter Trainer Bruno Labbadia. "Wir haben Timo mit 16 Jahren in einem Talenttraining gesehen", sagt Labbadia. "Schon damals hätten wir ihn am liebsten zu den Profis geholt: Er hat diese Riesenwaffe mit seinem Tempo. Und er ist richtig heiß aufs Tore schießen, das sieht man jede Woche." Mit 17 gab Timo Werner dann unter Labbadia sein Profi-Debut. Damals war Werner Außenbahnspieler und fütterte den einzigen Stuttgarter Mittelstürmer mit Flanken: einen gewissen Vedad Ibisevic.
Ibisevic, Labbadia, Werner – sie werden sich etwas zu erzählen haben am Mittwochabend. Hertha wird dafür sorgen wollen, dass sich die Gespräche auf der folgenden Rückreise aus Leipzig nicht schon wieder um eine heftige Niederlage gegen RB drehen.
Sendung: rbb UM6, 25.05.2020, 18:15 Uhr