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Wer gewinnt das Titelrennen? Der FC Bayern um Alphonso Davies (links) oder Dortmund mit Jadon Sancho.© AFP
BVB - Bayern

Stiller Kracher

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Auch ohne Zuschauer steckt im Spitzenspiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Bayern jede Menge Spannung – die Partie bringt der Bundesliga weltweite Aufmerksamkeit.

Erste oder letzte Male bleiben ja besonders gut in Erinnerung, und im Fall von Uli Hoeneß hatte der finale Auftritt auch noch mal Gewicht. Als der 68-Jährige im November des vergangenen Jahres zum letzten Mal als Präsident aus der Kabine des FC Bayern marschierte, wollte er noch etwas los werden. „Der Hansi“, so sagte er damals, habe seine Aufgabe bravourös gemeistert, und so ist es ja nur logisch, dass der Hansi weitermachen soll. An diesem Abend durfte Hoeneß noch mal etwas Großes verkünden, und Trainer Flick wurde von der Interims- zur Dauerlösung beim FC Bayern. Vorangegangen war: Ein 4:0 gegen Borussia Dortmund.

Knapp ein halbes Jahr ist das nun her, coronabedingt liegt eine überdurchschnittlich lange Zeitspanne zwischen Hin- und Rückspiel. Und man übertreibt auch nicht, wenn man sagt, dass sich so gut wie alle Begleitumstände seitdem geändert haben, wenn heute Abend (18.30 Uhr) die zweitplatzierte Dortmunder Borussia den Spitzenreiter aus München empfängt. Beide Teams haben eine Herbstkrise und eine bisher nahezu vorbildliche Rückrunde hinter sich. Die Trainer – damals: der neue Flick, der angezählte Lucien Favre – stehen nicht mehr allzu sehr im Fokus. Die Tribünen sind leer. Trotzdem ist es „ein schönes Spiel, das wir uns alle wünschen“, sagte Flick gestern. Der einfache Grund: „Man misst sich mit den Besten.“ Er grinste.

Flick gibt sich heute anders als damals. Im November, als er urplötzlich im Rampenlicht stand, war ihm all das noch nicht ganz geheuer. Gestern, kurz vor der Abreise nach Dortmund, nahm er gelassen auf seinem Stuhl Platz, lachte, fand aber auch ernste Worte. Auf große Kampfansagen wartete man vergeblich, der 55-Jährige wäre offiziell schon zufrieden, „wenn hinten die null steht“. Im Vergleich zum 5:2 gegen Eintracht Frankfurt müsse man sich „etwas verbessern“, er forderte „Tempo, Druck, Dynamik und Sicherheit“.

Und er stellte auch klar, dass das Duell an der Tabellenspitze – vier Punkte trennen die Bayern vom BVB – für ihn nicht vorentscheidend im Meisterkampf ist. Anders sieht das freilich BVB-Sportdirektor Michael Zorc: „Wenn wir weiter um den Titel mitspielen wollen, sollten wir gewinnen. Wir müssen an uns glauben, wir können sie schlagen.“

Sechs Spiele bleiben nach dem Ligagipfel, und auch wenn Flick es nicht ausspricht, wäre ein Sieben-Punkte-Polster mit Blick auf die derzeitige Form seiner Truppe doch kaum aufzuholen. „Jeder Spieler“, sagte er, „ist noch einmal ein bisschen mehr motiviert“. Das liegt zum einen freilich an der Ausgangslage, zum anderen aber auch an der Entwicklung, die dieses Team unter ihm genommen hat. Jeder will „an seine Grenzen gehen“, das fordert Flick auch. Mit Weitsicht brach er in der vergangenen Woche eine Trainingseinheit ab, in der ihm die Intensität zu gering war. Flick will auch ohne Zuschauer „Mentalität“ sehen, sagt er.

Doch auch die Dortmunder fühlen sich gerüstet für das Kracherspiel der Bundesliga. „Wir sind besser geworden. Wir spielen mit einem anderen System und haben mehr Präsenz“, verglich BVB-Coach Favre die Ausgangslage mit dem einseitigen Hinspiel. Man habe, ergänzte Sportchef Zorc, mit Emre Can und Erling Haaland zudem im Winter zwei „Winner-Typen“ dazu bekommen.

Nach jeweils neun Siegen in den bisherigen zehn Rückrundenspielen gehen beide Dauerrivalen voller Selbstvertrauen in die Partie. Ähnlich wie das Champions-League-Finale beider Teams 2013 in London könnte das Kräftemessen am Dienstagabend zu einem PR-Highlight für die gesamte Bundesliga werden. Schließlich wird sie wegen des frühen deutschen Neustarts des Fußballs nach der Corona-Pause konkurrenzlos in die weltweiten Wohnzimmer übertragen, während andere Spitzenligen wie die in England oder Spanien noch pausieren.

Nicht gerade wenig wird beim Kräftemessen der deutschen Schwergewichte auf die beiden fleißigen Torjäger ankommen. BVB-Knipser Haaland erzielte in seinen ersten 13 Pflichtspielen für die Borussia bereits 13 Tore. Bayerns Lebensversicherung Lewandowski kommt auf sage und schreibe 27 Ligatreffer aus 25 Partien. Der Pole ist damit auf dem besten Weg zu seiner fünften Torjägerkrone. Haaland habe „riesiges Potenzial, aber auch noch Zeit“, sagte der Münchner Lewandowski: „Wenn er hart arbeitet, kann er ein besserer Spieler werden und irgendwann das Top-Level erreichen.“

Verzichten müssen die Gäste in Dortmund auf den nach wie vor angeschlagenen Mittelfeldspieler Thiago. Dafür hat Verteidiger Jerome Boateng seine Muskelprobleme überwunden. Die Borussia kann derweil ebenfalls auf Mats Hummels bauen. Der Abwehrchef stehe „zu 99 Prozent“ zur Verfügung, sagte Favre.

Übrigens: Als der scheidende Bayern-Präsident Hoeneß an diesem Novemberabend vor den Mikrofonen stand, saß Favre aschfahl auf dem Podium der Münchner Arena. Kaum jemand glaubte, dass der Schweizer ein halbes Jahr später noch im Amt sein würde. Nicht mal er selbst. (mit dpa/sid)