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Open-Air-Festivals wie dieses auf dem Gurten ermöglichen es gemäss Kulturwissenschafter Michel Massmünster, sich neu zu erfinden.© Keystone

Ein Sommer ohne Rausch, Ekstase und Massenparty: Die Festivals sind abgesagt, vielen wird das fehlen

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Der Schweiz steht wegen Corona ein Sommer ohne Festivals bevor. Die Konzert-Clubs sind immer noch geschlossen. Welche unserer Bedürfnisse kommen deswegen zu kurz? Und können Livestreams ein Ersatz sein? Kulturwissenschaftler Michel Massmünster gibt Auskunft. Ohne Festivals fehlt uns das Unvorhergesehene.

Die Schweiz hat eine der höchsten Dichten an Festivals. Der Bund hat die Festivalkultur sogar auf die Liste der lebendigen Traditionen genommen. Welche Bedeutung haben Festivals für das Land?

Michel Massmünster: Festivals sind Orte der Begegnung. Das galt schon für Volksfeste, die zur Zeit der Aufklärung entstanden sind. Neu war damals, dass nicht nur der Adel für sich feierte, sondern Ständeschranken überschritten wurden. Feste haben also eine demokratisierende Funktion. Das galt zumindest zu Beginn auch für viele der Schweizer Festivals. Oft sind sie aus improvisierten Veranstaltungen von kleinen Cliquen und Gruppen entstanden. Zugleich ging und geht es dabei auch um neue Abgrenzungen. Verschiedene Milieus und Szenen ordnen sich anderen Festivals zu.

Szenen entstehen oft um Musikstile. Welche anderen Merkmale gibt es, mit denen sich einzelne Festivals im riesigen Schweizer Angebot voneinander abheben?

Neben der Gemeinschaft machen viele Festivals die Landschaft, in der sie stattfinden, zum Erlebnis. Beim Open Air St.Gallen im Sittertobel oder dem Gurtenfestival auf dem Berner Hausberg beispielsweise ist die Erfahrung der Umgebung zentral. Sie wird sogar zum Gesprächsthema. So wird in St.Gallen darüber geredet, ob man sein Zelt am Steilhang aufstellen musste oder einen guten Platz gefunden hat. Auch dabei geht es um Zugehörigkeit: Wer ist Insider und kennt den besten Platz? Dieses intensive Erleben der Umgebung schafft aber auch kollektive Erfahrungen, die Sie und ich mit ganz vielen anderen Schweizern teilen.

Sie haben 2019 mit Studierenden das kleine Sur le Lac-Festival in Eggersriet (AR) ethnografisch untersucht, also das Verhalten von Menschen in Feldforschung erfasst. Welche Erkenntnisse konnten Sie gewinnen?

Faszinierend ist, dass Festivals räumlich und zeitlich klar begrenzte Inseln sind: eine bestimmte Fläche über zwei oder drei Tage. Aber was das Festival ausmacht, sind auch die Vor- und Nachbereitungen, die Vorfreude und Erinnerung, die Gespräche und Fotos. Fotos werden in Zeiten von Social Media immer wichtiger. Vor allem vor Ort werden zudem die Regeln des Zusammenlebens neu verhandelt. Nicht nur musikalisch wird experimentiert, auch mit Kleidung, Essen, Freundschaften und Liebschaften. An Festivals wagen wir Dinge, die wir im normalen Alltag nicht tun. Man kann sich neu erfinden, gibt sich etwas cooler, smarter, mondäner oder je nach Szene auch versiffter oder kaputter. Natürlich ist oft Alkohol mit im Spiel, doch auch die besondere Umgebung erleichtert die Überschreitung von Konventionen. Wir sind übermüdet, Teil einer Masse, treffen Unbekannte, verlieben uns, entdecken neue Musik.

Für viele Jugendliche in der Schweiz gehört es zum Erwachsenwerden dazu, mit der Clique ein Festival zu besuchen. Sind Festivals auch ein Ort der Rituale?

Durchaus, viele Abläufe sind rituell und folgen immer ähnlichen Mustern. Und man ist Teil eines grossen Publikums. Gleichzeitig werden in dieser Masse Zugehörigkeiten zu Gruppen definiert. Das geschieht durch viele kleine Entscheidungen. Etwa, welches Bandshirt oder welche Markenkleider ich trage. Oder an welches Festival ich mit Freunden gehe und an welches eben gerade nicht. Ein Festivalbesuch ist immer Arbeit an der eigenen Identität. Für Jugendliche ist das zentral. Zu wem fühle ich mich zugehörig, was entspricht meinem Geschmack, wann fühle ich mich wohl, wann fühle ich mich unwohl? Aber heute sind Lebensentwürfe ohnehin ständig im Fluss, da stellen sich diese Fragen auch für Erwachsene immer wieder.

2020 wird vielleicht ein Sommer ohne Veranstaltungen. Was wird fehlen?

Natürlich trifft das in erster Linie alle Veranstalter wirtschaftlich hart. Dann fällt mit den Veranstaltungen aber auch ein wichtiger Raum fast gänzlich weg. In diesem finden unvorhergesehene Begegnungen und sinnliche, rauschhafte oder ganz einfach besondere Erlebnisse statt. Wer an ein Festival geht oder ins Nachtleben einer Stadt eintaucht, gibt dabei immer etwas von sich preis. Man lebt im Moment und kann sich verlieren. So erlebt man eine Distanz zum Alltag, der oft klarere Strukturen hat und dem Takt von Terminen folgt. Wenn Menschen nun mit Social Distancing leben und viel Zeit zu Hause verbringen, werden diese alltäglichen Ordnungen kaum durchbrochen. Das erschwert es, sich selber und das gesellschaftliche Zusammenleben neu zu erfinden. Diese Offenheit, die an Festivals ein Zustand von mehreren Tagen sein kann, wird es im Sommer 2020 in dieser Form nicht geben. Was aber geschieht, ist ja, dass sich neue Formen wie Livestreams entwickeln, in denen Menschen das kollektive Erlebnis suchen.

Kann Streaming Erlebnisse wie ein Livekonzert oder eine Clubnacht ersetzen?

Ich würde Streams nicht als Ersatz, sondern als neue und andere Formate beschreiben. Natürlich sind diese Erlebnisse weniger intensiv und Elemente wie etwa die Dunkelheit, laute Musik oder das Publikum fallen weg. Aber auch bei Online-Formaten sind durchaus magische Momente möglich. So erlebt man als Zuhörer jetzt die Musik bewusster, weil man nicht mehr jedes Wochenende an ein Konzert gehen kann. Die aufblühende Streamingkultur zeigt, dass wir nach Wegen suchen, um uns auszudrücken und sinnliche Erfahrungen zu machen. Das muss in der Zeit des Lockdowns nicht nur über Musik sein. Viele verbringen nun mehr Zeit in der Natur oder beim Sport. Aber klar: Nicht alle finden im Streaming oder beim Sport ihre Erfüllung. Für einen Sommer können wohl viele ohne Veranstaltungen irgendwie umgehen. Was es für die Gesellschaft und den Einzelnen bedeutet, wenn grössere Veranstaltungen länger verboten bleiben sollten, müsste sich erst noch zeigen.

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