Interview
Heinrich August Winkler: „Es bleibt richtig, sich von deutschen Sonderwegen fernzuhalten“
by Michael HesseHistorische Vergleiche hinken, aber schlechte Erfahrungen sollte man nicht vergessen: Heinrich August Winkler über die Lage der Demokratie in Europa, den SPD-Vorstoß zu Atomwaffen und die Spaltung der Gesellschaft durch die Corona-Krise.
Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, lehrte als Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Seine Buchveröffentlichungen zur Geschichte der Weimarer Republik, zu Deutschlands „langem Weg nach Westen“ und zur „Geschichte des Westens“ gelten als Standardwerke und fanden eine große Leserschaft. Winkler äußert sich regelmäßig zu tagespolitischen Fragen. Am 8. Mai 2015 lud ihn der Deutsche Bundestag ein, um die Rede zum 70-jährigen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs zu halten.
Professor Winkler, die Haltung des Bundesverfassungsgerichts zum Europarecht ist Kritikern schon länger ein Dorn im Auge. Nach dem Urteil zur Europäischen Zentralbank ist von „schlimm“ bis „gefährlich“ die Rede. Wird das Urteil die Grundfesten der EU ins Wanken bringen?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts knüpft an eine ganze Reihe von europarechtlichen Grundsatzentscheidungen des Karlsruher Gerichts an, beginnend mit dem Urteil zum Maastricht-Vertrag vom Oktober 1993, in diese Reihe gehört auch das Urteil zum Lissabon-Vertrag vom Juni 2009. Insofern wäre ein anderes Urteil überraschend gewesen. Das Bundesverfassungsgericht hat immer nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die demokratische Grundlegung politischer Macht ein Wesenselement unseres Grundgesetzes ist und dass diese Legitimation der Macht auch in der EU gewahrt werden muss.
Was bedeutet das?
Die EU bezieht ihre demokratische Legitimation aus dem demokratischen Mandat der Mitgliedstaaten. Deswegen insistiert das Bundesverfassungsgericht darauf, dass die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union gewahrt bleiben. Nur die Mitgliedstaaten sind demokratisch legitimiert, und sie sind die Herren der Verträge. Das ist der Ausgangspunkt, der in der Debatte über das Urteil vom 5. Mai zu kurz kommt. Das Europäische Parlament kann die demokratische Legitimation der EU nicht herstellen. Die Wahlen zum Straßburger Parlament sind frei, geheim und direkt, aber nicht gleich. Das Wahlrecht von Bürgern der größeren Mitgliedsstaaten wiegt deutlich weniger als das von Bürgern der kleineren Mitgliedstaaten. Dafür gibt es einen guten Grund: Die kleinen Mitgliedstaaten müssen im Europäischen Parlament auch vertreten sein, und sie wären es nicht, wenn das Prinzip „eine Person, eine Stimme“ gelten würde. Aus gleichen Wahlen gehen nur die nationalen Parlamente hervor. Nur sie sind demokratisch legitimiert.
Da stellt sich die Frage, woraus Europa erbaut ist. Ist es nur ein Staatenbund, so dass derjenige, der von einem souveränen Europa träumt, eben nur ein Träumer bleibt?
Die Europäische Union ist, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil festgestellt hat, ein Staatenverbund. Weder ein bloßer Staatenbund, noch ein Bundesstaat. Das jetzige Urteil hält nach meiner Meinung zu Recht dem Europäischen Gerichtshof vor, in der umstrittenen Frage der Behandlung von Staatsanleihen durch die EZB seine Kompetenzen überschritten zu haben. Erneut stellt sich die Frage: Wie werden die demokratischen Entscheidungsprozesse in der EU gewertet? Gelten sie als entbehrlich oder als fundamental? Eine demokratische Legitimation der Macht muss für einen Staatenverbund wie die EU ein Essential sein. Die Frage, ob wir um der europäischen Integration willen ein Weniger an Demokratie in Kauf nehmen dürfen, ist aus meiner Sicht eindeutig zu verneinen. „Mehr Europa“ um den Preis von weniger Demokratie, das darf nicht sein.
Dem EuGH wurde in der kritischen Phase eine „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbare“ und „willkürliche“ Entscheidung vorgeworfen. Ist das nicht Wasser auf die Mühlen von Populisten und Nationalisten, was man ja direkt an der Reaktion in Polen sehen konnte?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist zu einem sehr späten Zeitpunkt erfolgt. Im Rückblick muss man sagen, es wäre besser gewesen, Karlsruhe hätte schon früher eine so entschiedene Stellungnahme abgegeben. Man kann es fast als tragisch bezeichnen, dass das Urteil zu einem Zeitpunkt ergangen ist, wo sich Regierungen sogenannter illiberaler Demokratien wie Polen oder Ungarn darauf stützen können. Aber hier gibt es einen fundamentalen Unterschied.
Inwiefern?
Der Europäische Gerichtshof hat die Aufgabe, über die Einhaltung der Verträge zu wachen. In den Streitigkeiten zwischen Brüssel und Luxemburg auf der einen sowie Warschau und Budapest auf der anderen Seite geht es um die Einhaltung der normativen Grundbestimmungen der europäischen Verträge, zuletzt des Vertrags von Lissabon. Es geht um die Wahrung der elementaren Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit. Wenn in Ungarn und Polen die Gewaltenteilung in Form der Unabhängigkeit der Justiz infrage gestellt wird, dann werden Grundlagen der Europäischen Union infrage gestellt. Eine Europäische Union, die das hinnimmt, hört auf, eine Wertegemeinschaft zu sein. In dieser Frage ist die Position des Europäischen Gerichtshofes eindeutig, und sie muss eindeutig sein. Er handelt in pflichtgemäßer Erfüllung seines Auftrages, wenn er sich dem zunehmenden Abbau der Unabhängigkeit der Justiz entgegenstellt. Beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf den Ankauf von Staatsanleihen geht es um die Frage, ob der EuGH seine Kompetenzen überschritten hat. Das Bundesverfassungsgericht bejaht diese Frage und tut das mit Argumenten, die ich nicht für widerlegbar halte.
Zum Buch
Heinrich August Winklers „Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt“ erschien 2019 im C.H. Beck Verlag (968 S., 38 Euro).
Für die nächste Erschütterung sorgt die SPD, der Sie seit langem angehören. Es geht um die nukleare Teilhabe Deutschlands, die Bundesfraktionschef Rolf Mützenich als ein „Konstrukt des Kalten Krieges“ bezeichnete. Markiert das auch einen massiven Einschnitt wie die Westbindung Deutschlands?
Der Gedanke eines einseitigen Ausstiegs der Bundesrepublik aus dem Prinzip der nuklearen Teilhabe würde zu einer Isolierung Deutschlands führen und hätte die Wirkung eines ungewollten Teilauszugs aus dem nordatlantischen Bündnis. Ich kann vor der Illusion nur warnen, dass Europa oder die Welt dadurch sicherer würden. Wir dürfen nicht agieren, als lebten wir bereits in der idealen Welt, die wir uns wünschen dürfen. Deswegen bleibt es richtig, sich von jeder Art von deutschen Sonderwegen fernzuhalten. Wir haben damit in der Geschichte nur schlechte Erfahrungen gemacht.
Mützenich und Walter-Borjans streben eine Welt ohne Nuklearwaffen an. Das ist doch zunächst einmal ehrenwert.
Das ist ein sehr ehrenwertes Ziel, das von den meisten geteilt wird. Doch können wir dieses Ziel nicht durch Unilateralismus herbeiführen. Wir würden mit einem einseitigen deutschen Vorgehen weder Putins Russland noch das China Xi Jinpings beeindrucken, ganz abgesehen davon, dass wir in verteidigungspolitischer Hinsicht häufiger auch Probleme mit unserem wichtigsten Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Amerika, haben. Es kommt hinzu, dass eine Politik des einseitigen Ausstiegs aus der nuklearen Option uns auch in Europa isolieren würde. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron dringt auf eine militärische Stärkung Europas, aber auch das lehnen die Führungen von Partei und Fraktion der SPD ab. Das Ergebnis eines deutschen Unilateralismus wäre die Isolierung der Bundesrepublik. Europa und die Welt würden dadurch nicht sicherer.
Trifft die SPD damit nicht einen Nerv ihrer Wähler?
Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Die Abkehr von der bisherigen bündnis- und verteidigungspolitischen Tradition würde der SPD auf Bundesebene nur noch die Möglichkeit eines Zusammengehens mit der Linkspartei und den Grünen lassen und jede Aussicht verbauen, zur politischen Mitte hin bündnisfähig zu bleiben. Den Kampf um die politische Mitte müsste die SPD aufgeben, wenn sie sich auf einen dezidierten Linkskurs festlegt. Mehrheiten werden in Deutschland immer noch in der Mitte gewonnen. Auch hier gibt es jeden Anlass, vor Wunschdenken zu warnen.
Wie erleben Sie die durch die Pandemie verursachte ökonomische Krise? Erinnert Sie das ein wenig an die Zeiten der Weimarer Republik? Selten gab es so rasant steigende Arbeitslosenzahlen wie jetzt in den USA. Was sagen Sie dazu als Historiker?
Historische Vergleiche hinken häufig, und das gilt auch für Vergleiche zwischen der Corona-Krise und der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Damals gab es ein unvorstellbares Maß an Massenelend und politischer Radikalisierung, während die heutigen Erschütterungen eine Wohlstandsgesellschaft treffen, in der der demokratische Konsens sehr breit ist.
Die Regierungen springen mit Steuergeld und neuen Schulden ein. Wer soll das zurückzahlen?
Zurzeit steht die unmittelbare Bewältigung der Krise im Vordergrund. Aber schon sehr bald wird sich die Frage stellen, wie die riesige Neuverschuldung wieder abgebaut werden kann. Die Steuerausfälle sind gigantisch. Infolgedessen geht es darum, sich schon jetzt Gedanken zu machen darüber, wie wir der sozialen Ungleichheit, die durch die Corona-Krise gewaltig gesteigert wird, möglichst effektiv entgegenwirken können. Wir erleben heute eine Spaltung der Gesellschaft in die, die von der Corona-Krise existenziell betroffen sind, darunter viele Arbeitnehmer und Selbstständige auf der einen Seite, und solche, die weniger von der Krise betroffen oder sogar Profiteure der Krise sind, etwa der Versandhandel und die Supermärkte. Die Forderung nach einem gerechten Steuersystem ist heute so vordringlich wie noch nie. Wir müssen in der Tat durch eine stärkere Belastung der starken Schultern versuchen, ein höheres Maß an Steuergerechtigkeit zu erreichen. Die Geschichte seit 1945 liefert eine Reihe von Beispielen für eine Politik, die auf eine gerechtere Lastenverteilung abzielt: Ich denke an den Lastenausgleich von 1952 zugunsten von Heimatvertriebenen und Ausgebombten, aber auch an den Solidaritätszuschlag von 1992 nach der Wiedervereinigung. Wir können an diese Erfahrungen anknüpfen, ohne sie zu kopieren. Aber Lernstoff bietet die deutsche Geschichte nach 1945 allemal.
Interview: Michael Hesse