Angespitzt - Kolumne von Ulrich Reitz: Merkel bastelt mit Rettungsplan an ihrem Bild in Geschichte und folgt Kohls Vorbild
by FOCUS OnlineKanzlerin Merkel hat mit ihrem Corona-Rettungsplan einige ihrer politischen Überzeugungen über Bord geworfen. Das Vorhaben hat historische Dimensionen: Denn ihr Plan heißt so wie der Marshall-Plan und wie Kohl macht sie kurz vor Ende ihrer Kanzlerschaft einen großen europäischen Schritt.
Für kluge Politiker gilt die Weisheit, dass man tunlichst die Latte nur genau so hoch legen sollte, dass man hinterher möglichst bequem darunter her laufen kann. Sebastian Kurz, Österreichs Kanzler und für viele von der CDU Enttäuschte die konservative Ikone im deutschsprachigen Raum, ist so ein kluger Politiker. Noch vor wenigen Tagen ging er in Stellung gegen den 500 Milliarden schweren Europa-Plan von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, warnte vor einer drohenden "Schuldenunion" und präsentierte einen Gegenentwurf.
Damit legte er die Latte für seine Kollegen aus Deutschland und Frankreich scheinbar unüberwindbar hoch, um dann wenig später doch noch elegant unter der eigenen Hürde hindurch zu laufen.
Über den Autor: Ulrich Reitz
Ulrich Reitz arbeitete als Korrespondent bei der Welt, war in der Startmannschaft von FOCUS, den er zuletzt führte, und war insgesamt 17 Jahre lang Chefredakteur der beiden größten deutschen Regionalzeitungen "WAZ" und "Rheinische Post". Er beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Folgen der Digitalisierung, der kulturellen Verfasstheit Deutschlands und der Performance seiner Eliten in Politik und Wirtschaft. Reitz versteht sich als wirtschaftlich ordoliberal und politisch konservativ. Er schätzt die gepflegte Kontroverse.
Will sagen: Die Gegenwehr von Kurz war gar keine. Es war eine propagandistische Finte. Schon am Samstagabend drehte er dann auch geschmeidig bei: "Am Ende braucht es einen Kompromiss. So ist die Europäische Union", sagte Österreichs Kanzler im ORF. Dann folgt der Satz: Der wichtigste Punkt sei dabei für ihn die zeitliche Befristung der Corona-Hilfen. Diese zeitliche Befristung - auf wohl zwei Jahre - ist aber auch die Bedingung Angela Merkels für die Wiederaufbauhilfe.
Auch die deutsche Kanzlerin sieht die Aktion als einmalig an, als Ausnahme. Und schon jetzt zeichnet sich dieser Kompromiss ab: Weder wird das ganze Geld an Not leidende Staaten wie Italien und Spanien nur hergeschenkt, noch nur als Kredit ausgezahlt. Es wird eine Mischung aus beiden Papieren geben, dem deutsch-französischen und dem der "Genügsamen Vier" (Österreich, Dänemark, Schweder, Niederlande). Eben das, was Kurz einen typisch europäischen Kompromiss nennt. Die Details soll Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen an diesem Mittwoch bekanntgeben.
Europa könnte der größte Gewinner der Corona-Krise werden
Jenes geflügelte "Nach Corona wird nichts mehr wie es war" wird also auch für Europa gelten. Anstelle von Zank und Klein-Klein jetzt also ein großer Wurf. Absehbar wird es ein weitgehender Eingriff in die Nationalstaaten werden. Die Machtbalance zwischen der europäischen Zentrale in Brüssel und den Nationalstaaten wird verschoben. Die Europäische Kommission wird mächtiger. Der deutsche Vize-Kanzler Olaf Scholz (SPD) sagte freimütig, auf was das alles aus seiner Sicht hinauslaufe: es sei ein Schritt auf dem Weg in die Vereinigten Staaten von Europa. Merkel formuliert es, ihrer Art gemäß, zurückhaltender: Deutschlands Zukunft werde nicht allein bestehen im Nationalstaat.
Kommt es so, wie sich alles andeutet, dann wird Europa der größte Gewinner der Corona-Krise. Eine unerwartete Entwicklung, an der auch das deutsche Bundesverfassungsgericht seinen Anteil hat. Die Verfassungsrichter hatten zuletzt die Anleihekäufe nebst passendem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Frage gestellt, ein Signal, das überall in Europa so verstanden wurde: Mit den Deutschen wird es niemals eine einheitliche europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik geben können. Und natürlich auch keine Euro- oder Corona-Bonds. Keine gemeinsamen Schulden, keine Transferunion.
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Parallelen zur Flüchtlingspolitik bei Merkels Vorgehen
Das hat Merkel jetzt einkassiert und in sein Gegenteil verkehrt - ein einmaliger Akt, auch im Verhältnis einer deutschen Regierung zum höchsten deutschen Gericht. Die Europäische Kommission wird nun, der "Spiegel" nennt das die eigentliche Revolution, eigenständiger Spieler am Kapitalmarkt. Die Brüsseler Kommission nimmt damit peu a peu die Gestalt einer Europäischen Regierung an.
Dies nun für jene, die es historisch mögen: Das "Europäische Wiederaufbauprogramm" nach Corona heißt nicht nur zufällig wie die gemeinhin als Marshall-Plan bekannte US-Initiative nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Wiederaufstieg Europas aus Schutt und Asche ermöglichte. Das ist das eine. Das andere: Helmut Kohl setzte den Euro im letzten Jahr seiner Kanzlerschaft durch, so wie Merkel jetzt den nächsten großen europäischen Schritt im letzten Jahr ihrer Kanzlerschaft durchsetzt. Der Unterschied: Kohl wollte auch nach 1998 Kanzler bleiben, Merkel will 2021 als Kanzlerin gehen.
Schließlich: Die Parallele zur Flüchtlingspolitik ist augenfällig. Mit ihrer Politik der offenen Grenzen 2015 wollte Merkel dem Bild vom "Hässlichen Deutschen" eine menschenfreundliche Alternative entgegen setzen. Mit der halben Billion Euro bekämpft Merkel nun das in Europa verbreitete Image von Deutschland als Zuchtmeister anderer Staaten, der Südländer allzumal. Ihr Flüchtlingskurs brachte die Union an einen Abgrund und bescherte der AfD einen nachhaltigen Aufschwung. Weshalb riskiert Merkel fünf Jahre später, dass genau dies wieder geschieht?
Guter Moment, denn AfD ist mit sich selbst beschäftigt
Die einfachste Antwort lautet: Weil sie es kann. Die Corona-Krise hat für ein Comeback gesorgt - Merkels Ansehen in der Öffentlichkeit ist so hoch wie lange nicht mehr. Das sorgt für neue Autorität in CDU wie CSU: der demoskopische Höhenflug der Union ist der Hauptgrund dafür, dass in der Union kaum jemand gegen Merkels bis vor kurzem noch für unmöglich gehaltene Europawende aufbegehrt. Kaum zu überschätzen ist, dass ein in konservativen Kreisen hoch geachteter Unionsmann Merkels Kurs absichert: Wolfgang Schäuble. "Wir brauchen mehr Europa", sagt der Bundestagspräsident schlicht.
Das Risiko eines Wiederaufstiegs der AfD glaubt Merkel gerade jetzt eingehen zu können: Die Rechtspartei hat sich in einen zehrenden Richtungskampf zwischen Rechtsextremen und Rechtspopulisten verstrickt - Ende offen. Plus: Die Corona-Krise hat die Ernsthaftigkeit als Prinzip in die Politik zurückkehren lassen - krachlederne Parolen werden von der Mehrheit des Publikums abgelehnt, die AfD hat an Rückhalt erheblich eingebüßt.
Deutschland profitiert am meisten
Ein Letztes: Ist Merkels Europawende wirklich uneigennützig, so etwas wie europapolitischer Altruismus? Oder liegt die außerordentliche Finanzinfusion von Berlin gen Brüssel und von dort aus gen Rom und Madrid nicht auch im deutschen Eigeninteresse? Am Wochenende machte sich der CEO von ZF, Wolf-Henning Scheider, einem der größten Zulieferer der Automobilindustrie weltweit, für einen europäischen Länderfinanzausgleich nach deutschem Vorbild stark. Seine Begründung: Deutschland profitiere doch am meisten von allen europäischen Ländern vom Export. Deutschland profitiert am meisten vom Euro, Deutschland profitiert als Exportweltmeister am meisten von der Ausfuhr seiner Güter: Wer also trüge den größten Schaden davon, wenn Italien Pleite ginge und den Euro verlassen müsste?
Das heißt noch lange nicht, dass am Ende alles funktionieren wird wie geplant. Italien wird chaotisch regiert und man muss auch erst einmal sicherstellen, dass deutsche Steuergelder nicht in dunklen italienischen Kanälen versacken. Aber das sind die Mühen der Ebene. Und dieser Ebene ist Merkel längst entrückt. Sie arbeitet, darin dem späten Kohl nicht unähnlich, an ihrem Bild in der Geschichte.