Einigt das Coronavirus das zerstrittene Europa?
Der deutsch-französische Hilfsfonds ist ein Zeichen, dass die europäische Solidarität mehr ist als ein Schlagwort. Der Nationalstaat kann es nicht mehr alleine richten.
by Philipp LöpfeAnalyse
Was ist mit den Deutschen los? Jahrelang haben sie sich als die Geizkragen Europas profiliert, haben den von Schulden gebeutelten Südstaaten eine unsinnige Austeritätspolitik aufgezwungen und fürchteten vor allem einen Begriff wie der Teufel das Weihwasser: Eurobonds.
Und nun das: Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete letzte Woche gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron die Absicht, einen 500-Milliarden-Euro-Hilfsfonds auf die Beine zu stellen. Es handelt sich dabei um eine Art Marshall-Plan, ein Hilfsprogramm für die am Boden liegende europäische Wirtschaft.
Dank den 500 Milliarden Euro ist dieses Hilfsprogramm mehr als eine symbolische Geste. Aber nicht nur das macht es aussergewöhnlich: Erstmals ist es nicht ein einzelner Staat, der die Anleihen emittiert, es ist die EU. Etwas überspitzt kann man daher sagen: Es ist ein erster Schritt hin in Richtung Eurobonds. Und das Geld soll nicht als Darlehen verteilt werden, sondern es handelt sich um Zuschüsse, die nicht zurückbezahlt werden müssen.
Das Hilfsprogramm trifft auf erstaunlich breite Unterstützung, auch in Kreisen, wo man es nicht erwartet hätte. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder spricht in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» von einem unter den gegebenen Umständen «vertretbaren Mittel» und davon, dass es eine «europäische Lösung» brauche.
Der einst als beinharter Sparonkel verschriene ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble erklärte derweil in der «Welt»: «Wenn Europa noch eine Chance haben will, dann muss es jetzt Solidarität zeigen und beweisen, dass es fähig ist, zu handeln. Deutsche müssen ein überwältigendes Interesse daran haben, dass Europa wieder auf die Beine kommt.»
Olaf Scholz, Schäubles Nachfolger, spricht gar von einem «Hamilton-Moment». Was meint der deutsche Finanzminister damit?
Nach dem Krieg gegen die Engländer waren die damals 13 Staaten in Amerika hoch verschuldet. Alexander Hamilton, dem ersten Finanzminister des jungen Staates, gelang es 1790, die beiden misstrauischen Südstaatler Thomas Jefferson und James Madison zu überzeugen, gemeinsame, vom Bund gezeichnete Staatsanleihen zu emittieren.
Hamilton hat damit zwei Dinge erreicht: Er hat verhindert, dass die einzelnen Bundesstaaten, die sich spinnefeind waren, wieder auseinanderdrifteten. Und er hat die Basis für einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung gelegt.
Davon ist das deutsch-französische Hilfsprogramm noch weit entfernt, doch die Richtung stimmt. Wie ist es zu diesem erstaunlichen Meinungsumschwung in Deutschland gekommen?
Bisher war es die Europäische Zentralbank (EZB), welche die Südstaaten über Wasser hielt. Gemäss dem legendären Motto des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi «whatever it takes» verhinderte sie Staatspleiten oder gar Austritte aus Euroland mit finanztechnischen Tricks. Die EZB sorgte so dafür, dass die Politiker nie wirklich handeln mussten.
Weil Draghi dabei jedoch nach Meinung vieler deutscher Konservativer die Grenzen seiner Kompetenzen nicht nur streifte, sondern überschritt, klagten sie ihn mehrmals ein.
Am 5. Mai nun hat das deutsche Verfassungsgericht einer dieser Klagen teilweise stattgegeben. In der Sache ist es nicht wirklich relevant – es bezieht sich auf einen Vorfall im Jahr 2015 –, aber der Wink der Verfassungsrichter war überdeutlich: Deutschland wird die Tricks der EZB nicht mehr länger dulden.
Diese Botschaft ist auch bei Angela Merkel angekommen. Gegenüber der «Financial Times» spricht ein hoher deutscher Beamter von einem «Moment der Wahrheit». Es sei nun damit vorbei, dass die EZB stets die Drecksarbeit verrichte und zum Dank als Sündenbock dastehe, ergänzte er.
Nach dem 5. Mai war der Kanzlerin klar, dass sie sich dem französischen Begehren nach einem engeren Schulterschluss nicht mehr länger verweigern konnte. Deshalb schluckte Merkel die Kröte, trat gemeinsam mit Macron vor die Kameras und sprach den vielleicht historischen Satz aus: «Allein hat der Nationalstaat keine Zukunft.»
Es geht jedoch um mehr als nur um Solidarität und europäische Werte. Es besteht auch ein enormer wirtschaftlicher Leidensdruck. Europa wird in eine schwere Rezession schlittern. Für Deutschland prognostizieren die Ökonomen ein Schrumpfen des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 8 Prozent, für Frankreich 10, für Spanien 15 und für Italien gar 18 Prozent.
Einst haben die Italiener der EU mit mehr als 80 Prozent zugestimmt. Heute wird in Rom und Mailand laut über einen Austritt aus Euroland nachgedacht. Italien ist nicht nur die drittgrösste Volkswirtschaft der EU, es ist auch Mitglied von Euroland. Hält man sich vor Augen, was für enorme Schwierigkeiten der Brexit bietet, wäre ein Austritt der Italiener die reinste Katastrophe.
Dazu kommt, dass man einige Lehren aus dem Griechenland-Debakel gezogen hat. Damals hat man die Regierung gezwungen, das Tafelsilber zu verhökern, um so den Schuldenberg abzutragen. Die Chinesen liessen sich nicht zweimal bitten und rissen sich beispielsweise die griechischen Häfen unter den Nagel. Das sei ein «strategischer Fehler» gewesen, räumt Macron heute ein.
In Europa wächst das Bewusstsein, dass man sich nur gemeinsam gegen die beiden Supermächte USA und China behaupten kann. Zumindest teilweise. Die «geizigen vier» – Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden – wehren sich gegen das Hilfsprogramm. Sollten Deutschland und Frankreich standhaft bleiben – und danach sieht es aus –, dann dürfte dieser Widerstand jedoch zusammenbrechen.
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