Wie eine Thomas-Müller-Kopie
Der Timo Werner, der allein mit langem Anlauf trifft, ist Geschichte. Unter Julian Nagelsmann hat der Stürmer Gefallen daran gefunden, seinem Spiel neue Facetten hinzuzufügen.
by Frank HellmannFlorian Müller, dem bedauernswerten Ersatztorwart des FSV Mainz 05, war erkennbar nicht daran gelegen, sich am frühen Sonntagabend mit irgendwelchen Floskeln aus einem Geisterspiel zu retten, das ihn eher an ein Gruselkabinett erinnerte. "Ehrlich gesagt, können wir uns bei Leipzig bedanken, dass sie so viele Chancen nicht reingemacht haben, sonst wäre es ohne Probleme zweistellig ausgegangen", meinte der Schlussmann in entwaffnender Ehrlichkeit. Tatsächlich war der 5:0-Sieg der Leipziger im ungleichen Duell am Mainzer Europakreisel eher noch zu niedrig als zu hoch ausgefallen. Die Wiederholung der 8:0-Lehrstunde aus der Hinrunde wäre aus Sicht der Sachsen leicht möglich gewesen. Angst und Schrecken verbreitete bei den Rheinhessen vor allem Torjäger Timo Werner, der erneut einen Dreierpack gegen Mainz erzielte (11./58./75.).
"Wenn wir das so beibehalten, kann die Saison gut enden", sagte der 24-Jährige, der eingedenk seiner 24 Saisontore das Limit offenbar nicht auf Tabellenplatz drei sieht. Seine 32 Scorerpunkte nach 27 Spieltagen bedeuten nebenbei eine neue Bundesliga-Bestmarke. Während die Mainzer nun am Mittwoch (20.30 Uhr) mit Unbehagen in der Alten Försterei bei Union Berlin antreten, empfangen die Leipziger mit viel Selbstbewusstsein Hertha BSC (18.30 Uhr). Drei Punkte und weitere Tore hat Werner flugs angekündigt. Als "sehr spielfreudig, sehr mutig und sehr lebendig" beschrieb RB-Trainer Julian Nagelmann seine unter Dauerstrom stehende Offensive.
Werner dient darin als eine Art Umspannwerk. Der Irrwisch gab nur nominell die zweite Spitze neben seinem Lieblingspartner Yussuf Poulsen, der sein 250. Pflichtspiel im Leipziger Dress mit einem Treffer und zwei Torvorlagen krönte. In Wahrheit mimte der vom FC Bayern verschmähte Werner eine Thomas-Müller-Kopie, der mit nicht vorhersehbaren Laufwegen Verwirrung stiftete. Besonders effektiv war das Wirken des Nationalspielers, wenn er sich auf den Posten als hängende Spitze begab, zumal er deutliche Fortschritte bei der Ballbehauptung gemacht hat.
Der Mainzer Trainer Achim Beierlorzer, der als Fußballlehrer schon in verschiedenen Rollen bei RB arbeitete (unter anderem als Assistent von Ralf Rangnick in der Aufstiegssaison), ist mit der Spielphilosophie von Leipzig eigentlich bestens vertraut. Er fand aber keine taktischen Mittel gegen den mobilen Werner. Dass der Mainzer Coach zwischenzeitlich den einen Innenverteidiger (Jeremiah St. Juste) ins Mittelfeld zog und den anderen (Jeffrey Bruma) auswechselte, sorgte für viele Freiräume, in die sich Werner schlich und überlegt seine Tore schoss. Seine Gegenspieler hielten mehr Abstand, als es jede Corona-Regel vorschreibt.
Werners Entwicklungsschritt
Bei jedem seiner Erfolge jubelte Werner angemessen zurückhaltend. Ihm reichte der ausgestreckte Ellbogen. Seine Belohnung seien Tore, sagte Werner artig, um dann mit einem verschmitzten Grinsen preiszugeben: "Ein paar Süßigkeiten sind schon drin." Die Naschkatze hat erkennbar Geschmack daran gefunden, ihrem Spiel neue Facetten hinzuzufügen. Der Werner, der allein mit langem Anlauf trifft, ist Geschichte. Für einen Spieler seiner Anlagen, der vielleicht bald zum FC Liverpool wechseln will, reicht es nicht, allein auf torbringende Sprints in die Tiefe zu setzen. Werner hat das unter Nagelsmann verstanden.
"Das ist bei ihm ein Entwicklungsschritt. Er hat gut aufgedreht auf der neuen Position", lobte der Coach. Interessant, dass vor allem Torwart Peter Gulacsi wiederholt Werner über das ganze Feld ermahnte, die Spannung zu halten ("Mach weiter, Timo!"). Dass der Torjäger generell das große Geschrei auf dem Platz nicht mag, ist allseits bekannt, seit sich der gebürtige Stuttgarter im September 2017 in einem Champions-League-Gruppenspiel bei Besiktas Istanbul in einem infernalischen Getöse die Ohren zuhielt und früh vom Feld ging. Nun läuft der Angreifer seitdem nicht mit Ohrenstöpsel auf, aber dass die aktuellen Abläufe um mehrere Dezibel heruntergedimmt sind, kommt ihm gewiss gelegen.
RB Leipzig kommunizierte damals die Lärmempfindlichkeit so ungern wie jetzt offenbar eine zurückliegende Corona-Erkrankung von Mittelfeldspieler Marcel Sabitzer. Mehrere Medien berichteten, dass der österreichische Nationalspieler vom Gesundheitsamt vor knapp vier Wochen genau wie ein Physiotherapeut in zweiwöchige Quarantäne geschickt wurde. Beide RB-Angestellte waren wohl symptomfrei. Nagelsmann, 32, wollte dazu - wie auch andere Verantwortliche - keinen Kommentar abgeben. Ebenso wortkarg gab sich der Coach ansonsten nur bei der Frage, ob Werner angesichts der für ihn nun ausgesprochen günstigen Rahmenbedingungen den Wettstreit mit Bayern-Stürmer Robert Lewandowski (27 Saisontore) um die Torjägerkanone gewinnen kann. Nagelsmann: "Das müssen Sie Timo fragen. Ich will da keinen Druck aufbauen."