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In der liberalen Moscheegemeinde finden jene Muslime Zuflucht, die in traditionellen Verbänden nicht geduldet werden

Quelle: picture alliance / dpa

„Für Islamisten bin ich eine Art zionistisches U-Boot“

2010 gründete Lamya Kaddor den ersten deutschen Verband liberaler Muslime. Nach einem Jahrzehnt blickt sie zurück. Dass sie für das Projekt „eine Ausbildung im mentalen Nahkampf unterhalb der Gürtellinie benötigen würde“, habe sie erst lernen müssen.

Was für ein bunter Haufen!“ – so schoss es Lamya Kaddor durch den Kopf. Es war im Mai 2010, als Kaddor die Gründungsversammlung ihres Liberal-Islamischen Bundes (LIB) eröffnete. In einem Oberhausener Hotel hatten sich 60 bis 70 Interessenten versammelt, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Nur eins verband sie: der Wunsch, hierzulande einen freien Islam zu leben. Was ist daraus geworden?

WELT: Frau Kaddor, hatten Sie 2010 in dem Oberhausener Hotel das Gefühl, eine religiöse Marktlücke zu füllen?

Lamya Kaddor: In gewisser Weise schon. Wir waren bunt zusammengewürfelt. Aber sehr viele brachten ihre Leidensgeschichten mit, weil sie in den traditionellen Moscheegemeinden nicht geduldet wurden oder nicht zurechtkamen. Die suchten was bei uns.

WELT: Was waren das für Muslime?

Kaddor: Deutsche jedweder Abstammung, die sich nicht beheimatet fühlten in den am Herkunftsland orientierten Moscheen. Schwule und Transgender, die in ihrer muslimischen Lebenswelt nie toleriert wurden. Oder muslimische Frauen mit einem nichtmuslimischen Mann, die ebenfalls eine religiöse Heimat suchten, in der ihre Ehe akzeptiert wurde.

WELT: Diesen Minderheiten und Benachteiligten wollten Sie ein Zuhause geben?

Kaddor: Wir wollen ihnen helfen. Das ist gut islamisch. Auch der Prophet Muhammad kämpfte für diskriminierte Gruppen und Minderheiten. Damals waren es Witwen, Waisen und Sklaven ...

WELT: ... und heute sind es Transsexuelle? Solche Toleranz war für den Propheten aber kein Thema. Laut Überlieferung galt ihm praktizierte Homosexualität sogar als todeswürdig.

Kaddor: Solche Aussagen aus der Sunnah ...

WELT: ... der Überlieferung von Worten und Taten des Propheten ...

Kaddor: ... sind entweder nicht eindeutig gesichert oder antiquiert. Vor über 1400 Jahren, in einer ganz anderen Welt, mögen solche Aussagen auf Verständnis gestoßen sein. Heute nicht mehr.

WELT: Das Prophetenwort zur Homosexualität gilt aber als verlässlich überliefert.

Kaddor: In liberaler Lesart werden Koran und Sunnah historisch eingeordnet und im Kontext ihrer damaligen Zeit gelesen.

WELT: In der konservativen Lesart auch.

Kaddor: Zum Teil. Aber wir orientieren uns an dem Ziel, einen in der modernen Gesellschaft lebbaren Islam zu gestalten. Der Islam ist für den Menschen da, nicht umgekehrt.

WELT: Und wenn Sie damit in Gegensatz zur traditionellen Auslegung geraten ...

Kaddor: ... dann ist die Treue zur Ratio wichtiger als die Treue zur Tradition.

WELT: Die großen Verbände werfen Ihnen deswegen vor, den Islam seiner Substanz zu berauben.

Kaddor: Unsinn, es gibt für den LIB eine unverhandelbare Substanz. Die fünf Säulen des Islams und die sechs Glaubensgrundsätze zum Beispiel.

WELT: Wie viele Mitglieder hat der LIB aktuell eigentlich?

Kaddor: Rund 230.

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Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor kämpft für einen freien Glauben

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WELT: Ziemlich begrenztes Wachstum.

Kaddor: Immerhin treffen wir uns inzwischen in Gemeinden und praktizieren dort einen gleichberechtigten Islam. Das umfasst auch geschlechtergemischte Gemeinschaftsgebete, mit weiblichen oder schwulen Imamen.

WELT: Haben Sie eine eigene Moschee?

Kaddor: Nein, das ist leider zu teuer. Wir versammeln uns meist in Sälen, die uns von den Kirchen zur Verfügung gestellt werden – was ein schönes Zeichen ist.

WELT: Sind Sie nicht ein kleines Intellektuellenprojekt geblieben?

Kaddor: Wir mögen klein sein, aber wir bewegen etwas. Der LIB sitzt in der Deutschen Islamkonferenz und in kommunalen Gremien. Mit mehreren Landesregierungen sind wir im Austausch über Religionsunterricht und vieles mehr.

WELT: Die konservativen Verbände haben das Tausendfache an Mitgliedern.

Kaddor: Es geht nicht nur um Zahlen. Der LIB repräsentiert eine verbreitete Haltung. Liberale tun sich oft schwer mit Organisation, weil sie ihren Glauben nun mal individuell und frei praktizieren.

WELT: Sind liberale Gläubige vielleicht schlechter in der Akquise?

Kaddor: Mag sein, das hat aber auch mit dem Staatsreligionsrecht zu tun. Es verlangt, dass Religionsgemeinschaften sich selbst finanzieren. Weil wir – anders als große Verbände – kein Geld aus dem Ausland bekommen, sind unsere Möglichkeiten begrenzt.

WELT: Inzwischen ist Ihnen neue Konkurrenz erwachsen: die Initiative säkularer Muslime. Sie will nicht-praktizierende Kulturmuslime vertreten.

Kaddor: Konkurrenz? Na, ich weiß nicht. Das ist ja nur eine Handvoll Personen. Aber ja, auch manch kämpferischer Säkularist beansprucht für sich, einen liberalen Islam zu vertreten. Da habe ich gelegentlich jedoch meine Zweifel.

WELT: Weshalb?

Kaddor: Weil manche Säkulare im Umgang mit traditionelleren Muslimen nicht liberal sind. Es ist autoritär, das Kopftuchtragen in weiten Teilen der Öffentlichkeit verbieten zu wollen und jede andere Meinung dazu islamistisch zu nennen.

WELT: In Ihrem neuen Buch argumentieren Sie selbst, das Kopftuch sei obsolet.

Kaddor: Da äußere ich theologisch meine persönliche Überzeugung. Dennoch bringe ich die Toleranz auf, einer Frau ihr Kopftuch zuzugestehen. Das sollte für Liberale selbstverständlich sein.

WELT: Was ist schlecht an Kulturmuslimen?

Kaddor: Nichts. Einige meiner besten Freunde sind Kulturmuslime. Aber manche polarisieren und bringen unnötig Schärfe in die innerislamische Debatte. So erreicht man nur eins: verhärtete Fronten.

WELT: Polarisieren Sie nicht auch, wenn eine Mitautorin Ihres Buches behauptet, Transsexualität sei gut islamisch?

Kaddor: Warum? Sie argumentiert theologisch und gründlich. Mich überzeugt’s.

WELT: Traditionellere Muslime, aber auch Islamkritiker halten das für absurd.

Kaddor: Deshalb kriege ich ja auch von allen Seiten Feuer.

WELT: Daran hat sich nichts geändert?

Kaddor: Wenig. Für Islamisten bin ich eine Art zionistisches U-Boot – und für Islamhasser eine getarnte Islamistin.

WELT: Haben Sie damit 2010 gerechnet?

Kaddor: Mir war bewusst, dass der liberale Islam ein historisches Projekt ist, für das man viel Geduld braucht. Aber dass ich dafür eine Ausbildung im mentalen Nahkampf unterhalb der Gürtellinie benötigen würde – das musste ich erst lernen.

Islamwissenschaftlerin, Lamya Kaddor

Die in Ahlen geborene Gründerin des Liberal-islamischen Bundes lebt in Duisburg. Ihre Eltern stammen aus Syrien. Im Sammelband „Muslimisch und liberal“ skizziert sie nun mit vielen Reformern ihre Idee eines zeitgemäßen Islams.

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

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Quelle: WELT AM SONNTAG