Versuchslabor Thüringen
Corona-Lockerungen
by tagesschau.deDie Zahl der Neuinfektionen ist niedrig, die Corona-Exit-Debatte läuft. Thüringens Regierungschef Ramelow will nun alle Beschränkungen aufheben. Während Bayern die Pläne strikt ablehnt, überlegt Sachsen Thüringen zu folgen.
Mit seinem Vorstoß, ab dem 6. Juni die allgemeinen Corona-Beschränkungen in seinem Bundesland aufzuheben, hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow die Debatte um einen Ausstieg aus den Maßnahmen gegen die Pandemie befeuert. Doch ob in der Bundespolitik oder den Ländern - das Vorpreschen Ramelows kommt meist nicht gut an. "Unser aller Job in der Politik ist jetzt nicht alleine, Sehnsüchte zu stillen - auch wenn diese nachvollziehbar sind -, sondern weiter nüchtern, verantwortungsvoll und wissenschaftsgeleitet abzuwägen und der Gesellschaft zu helfen, diese Pandemie zu durchstehen", sagte der saarländische Ministerpräsident Hans der "Welt".
Ablehnend äußerte sich auch Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier. "Ich halte eine komplette schnelle Lockerung für verfrüht", sagte er der "Bild am Sonntag". Und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl warnte davor, die erzielten Erfolge im Kampf gegen die Seuche fahrlässig aufs Spiel zu setzen. Noch deutlicher wurde der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann, der in der "Bild" von einem "hochgefährlichen Experiment für alle Menschen in diesem Land" sprach. Die Aufhebung aller Schutzmaßnahmen komme zu früh und sei der aktuellen Situation nicht angemessen.
Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil erinnerte in der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" an den Corona-Ausbruch nach der Feier in einem Gasthof in Leer und erklärte: "Das Coronavirus ist keineswegs aus der Welt." Niedersachsen werde Lockerungen nur Schritt für Schritt ausweiten "ohne den Bogen zu überspannen".
Sachsen könnte Thüringen folgen
Dem Beispiel Thüringen zumindest in Teilen zu folgen, das plant bislang lediglich Sachsen. "Wenn die Zahl der Neuinfektionen weiterhin stabil auf einem niedrigen Niveau bleibt, planen wir für die Zeit ab dem 6. Juni in der nächsten Corona-Schutzverordnung einen Paradigmenwechsel", sagte Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping.
"Statt wie jetzt generell Beschränkungen zu erlassen und davon viele Ausnahmen für das zu benennen, was wieder möglich ist, wird dann generell alles freigegeben und nur noch das Wenige an Ausnahmen benannt, was noch nicht möglich sein wird", sagte die SPD-Politikerin. Zugleich warnte sie, vieles hänge davon ab, "dass die Menschen Verantwortung übernehmen und sich an Abstandsgebot und Maskenpflicht halten". Ob auch diese Regeln aufgehoben werden, "sollte bundesweit gemeinsam entschieden werden", betonte die Ministerin.
Bereits am Wochenende hatte SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach den Vorstoß Thüringens scharf kritisiert, nun forderte er die Bundesregierung auf, ein Signal gegen die angekündigten Lockerungen zu setzen. Mit dieser Entscheidung drohe ein bundesweiter Wettlauf der Länder bei Lockerung der Restriktionen, "der aus medizinischer Sicht katastrophal wäre", warnte der Bundestagsabgeordnete in der "Rheinischen Post". Das Corona-Kabinett solle heute "unbedingt ein Gegensignal setzen, um das zu verhindern".
SPD-Parteichefin Saskia Esken wies auf zahlreiche Verstöße gegen das Abstandsgebot hin. "Menschen brauchen offenbar weiterhin Klarheit, Sicherheit und Orientierung durch überregionale Regeln wie zur Hygiene, zum Abstandhalten und zur Eingrenzung naher Kontakte", sagte sie der "Welt". Nicht alle gingen verantwortlich mit neuen Freiheiten um.
"Aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet"
Mit Blick auf Infektionsfälle nach Gottesdienst- und Restaurantbesuchen rief Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt die Länder auf, ihre Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus immer wieder auf die Wirksamkeit hin zu überprüfen. "Viele von ihnen haben die Lockerungen vorangetrieben", sagte Göring-Eckardt den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. "Sie müssen jetzt aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet."
Linken-Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch verteidigte die geplanten Schritte. Ramelow wolle weder Abstandsregeln noch Maskenpflicht abschaffen, sondern er wolle bei den Auflagen regionalisieren, sagte Bartsch im Deutschlandfunk. Er gehe davon aus, dass Ramelow und seine Regierung dabei "äußerst aufmerksam bleiben". Bartsch betonte zugleich, es dürfe "keinen Lockerungswettlauf" unter den Bundesländern geben.
Thüringens Regierungschef verteidigt sich
Auch der viel gescholtene Ramelow verteidigte seine Pläne. "Das Motto soll lauten: Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten", sagte der Linkspolitiker der "Bild am Sonntag". Die bisherigen Regelungen seien im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten beschlossen worden. "Jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte. Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht, zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln", sagte Ramelow.
Unterstützung bekam er von der FDP: Fraktionsvize Stephan Thomae erklärte, Thüringen gehe "einen mutigen Schritt voran". Die weitere Entwicklung müsse wachsam beobachtet werden. "Wenn sich ein Infektionsherd örtlich auf bestimmte Landkreise, Orte oder gar nur Einrichtungen begrenzen lässt, ist es jedoch nicht zwingend erforderlich, ein ganzes Bundesland mit allen Nebenfolgen ins künstliche Koma zu versetzen."
FDP-Chef Christian Lindner sagte am Sonntag bei "Bild live", es gebe Regionen, in denen es sehr empfehlenswert sei, weiter auf Abstand zu gehen und Masken zu tragen, und Regionen, in denen Lockerungen denkbar seien. "Das muss man sehr sorgfältig auch mit den Experten, mit Virologen und Epidemiologen diskutieren - es geht dabei schließlich auch um Menschenleben", sagte Lindner. Die Debatte über regionale Lockerungen nannte er richtig und gut.
Angela Tesch, ARD Berlin
25.05.2020 11:06 Uhr